Zeit der Raben - Ein Inspektor-Rutledge-Roman
schon vergessen haben.«
Er kam sich vor wie ein Schüler, der von seiner Lehrerin zurechtgewiesen wird. »Ja, natürlich. Tut mir leid. Ich bin mit den Gedanken nicht bei der Sache.«
»Das sehe ich.« Sie erhob sich, um zu gehen, und er stand ebenfalls auf. »Ich werde mal sehen, ob ich im Gasthaus eine Tasse Tee bekomme.« Sie musterte ihn einen Moment lang eindringlich.
»Wenn es etwas gibt, was ich für Sie tun kann, dann sagen Sie es mir, bitte. Ich werde nur ein oder zwei Tage bleiben. Verstehen Sie, ich war in Sorge. Und Sie haben sich schließlich von sich aus an mich gewandt.«
Mit diesen Worten verließ sie das Zimmer, und er ließ sie gehen.
Hamish sagte: »Sie ist eine Ortsfremde. Sie fürchtet sich nicht vor dem Wäldchen.«
Dieser Stimmungsumschwung überraschte Rutledge. Er antwortete nach reiflicher Überlegung bedächtig: »Ja, das ist wahr.«
Er überquerte die Straße und klopfte laut an Mrs. Ellisons Haustür. Sie öffnete ihm und spielte im ersten Moment eindeutig mit dem Gedanken, ihm die Tür vor der Nase zuzuschlagen, doch er sagte: »Es geht um Ihre Tochter.«
Daraufhin bat sie ihn herein und ließ ihn wie einen Handelsvertreter im Flur stehen.
»Was ist mit meiner Tochter?«
»Inspector Cain hat in den Akten seines Vorgängers einen Brief entdeckt. Er kam von einer Mrs. Greer in London, die für sechs Monate Unterkunft in ihrem Haus bezahlt werden wollte. Ihre Tochter war fortgegangen, ohne ihre Rechnung zu begleichen.«
Sie erwiderte barsch: »Damit hat sie mich zutiefst beschämt. Aber ich muss zu ihrer Rechtfertigung sagen, dass sie erst ihren Ehemann verloren hatte und dann ihr Kind hergeben musste. Sie ist nach Frankreich gegangen, um sich dort zu kurieren. Ich habe es niemandem erzählt, es ist zu peinlich. Ich hoffe, Sie werden meine Bitte respektieren, dass diese Angelegenheit unter uns bleibt.«
»Was ist aus Beatrice Ellison Mason geworden, Mrs. Ellison? Sie müssen es doch wissen.«
Sie wandte sich von ihm ab. »Sie ist tot. Ich habe es Emma nie gesagt. Ihr war es lieber zu glauben, ihre Mutter sei in London
und malte. Sie ist nach Paris gegangen, verstehen Sie, hat dort einen Belgier geheiratet und war in Liège, als die Deutschen die Stadt bombardiert haben. Sie muss unter den Todesopfern gewesen sein, denn seit Juli 1914 habe ich nie mehr etwas über sie erfahren.«
»Sie hat Ihnen geschrieben?«, fragte er überrascht.
Sie wandte sich wieder von ihm ab, und jetzt drückte sich Verachtung auf ihrem Gesicht aus. »Nein. Ich hatte andere Mittel, um von ihrem Verbleib zu erfahren. Eine frühere Mitschülerin von mir hat in Paris gelebt, und sie hat mich benachrichtigt, wenn sie etwas Neues erfahren hat. Daher wusste ich von der zweiten Ehe meiner Tochter. Ich würde meinen, sie hätte weitere Kinder bekommen. Es muss Beatrice unangenehm gewesen sein, ihrem zweiten Ehemann von Emma zu erzählen.«
»Weshalb hätte ihn das stören sollen, wenn er sie geliebt hat?«
»Beatrice ist mit der Wahrheit oft sehr freizügig umgegangen. Und Mason ist nicht gerade der romantischste Name für eine Künstlerin. Soweit ich weiß, hat sie sich Harkness genannt. Das klingt vermutlich etwas vornehmer.«
»Sagt sie die Wahrheit?«, fragte Hamish.
Rutledge glaubte es. Ihre Stimme klang überzeugend, und er konnte ihr die emotionale Anspannung ansehen. Sie hatte ihre Hände so fest ineinandergeschlungen, dass die Knöchel weiß hervortraten.
»Warum haben Sie Ihre Enkelin an eine Adresse in London schreiben lassen, die gar nicht existierte? Es muss eine bittere Enttäuschung für sie gewesen sein, als die Briefe ungeöffnet zurückkamen.«
»Sie sind keine Mutter, Inspector«, fauchte sie ihn an. »Wie können Sie sich ein Urteil darüber anmaßen, was für ein leicht zu beeindruckendes kleines Mädchen das Beste ist? Ein Kind, das Lady Marian für eine Heldin hält und auf eigenen Beinen stehen will?«
»Es hätte einfacher sein können, wenn sie von Anfang an die Wahrheit gewusst hätte. Es besteht immer noch die Chance, dass sie auf der Suche nach ihrer Mutter nach London gegangen ist. Und London ist kein Ort für ein alleinstehendes junges Mädchen. Dort hätte ihr alles Mögliche zustoßen können. Erschreckt Sie das nicht?«
»Eine solche Dummheit hätte sie niemals begangen. Sie haben sie nicht gekannt.«
»Dann ist sie vielleicht auf der Suche nach einem jungen Mann dorthin gegangen, der in den Krieg gezogen war.«
Wenn er sie geohrfeigt hätte, hätte sie nicht
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