Zeit der Rache: Ein Jack-Reacher-Roman (German Edition)
hast du dir gedacht. Eine vergewaltigte Frau, die einfach einen großen, breitschultrigen Mann in ihr Haus lässt, damit er dort sein Wasser abschlagen kann. Aber es funktionierte einigermaßen reibungslos. Er ging hinein, die Tür wurde geschlossen, und kurz darauf kam er wieder heraus. Er lief zu seinem Wagen zurück, blickte sich ein bisschen um und musterte die Umgebung. Dann stieg er ein, und alles war wieder wie gehabt.
Bei den Pinkelpausen kommst du also nicht zum Zug. Erst in der Mittagspause bietet sich die nächste Gelegenheit. Ohne etwas zu essen, steht er auf keinen Fall zwölf Stunden durch. Polizisten sind ständig am Essen. Das weißt du aus Erfahrung. Donuts, Kuchen, Kaffee, Steaks und Eier. Immerzu müssen sie etwas essen.
Harper wollte die Stadt von oben sehen. Sie benahm sich wie eine Touristin. Reacher ging mit ihr durch den Washington Square Park und den ganzen West Broadway hinunter zum World Trade Center. Ein etwa eindreiviertel Meilen weiter Weg, den sie langsam und gemächlich schlendernd in fünfzig Minuten zurücklegten. Das Wetter war nach wie vor strahlend schön, und Harper genoss den Spaziergang durch das Menschengewimmel der Großstadt.
»Wir könnten rauf ins Restaurant gehen«, schlug Reacher vor. »Wenn mich das FBI zum Mittagessen einlädt.«
»Ich habe Sie doch gerade zum Mittagessen eingeladen«, versetzte Harper.
»Nein, das war ein spätes Frühstück.«
»Sie sind ständig am Futtern«, entgegnete sie.
»Ich bin ein großer Kerl«, sagte er, »und muss bei Kräften bleiben.«
Sie gaben ihre Mäntel im Foyer ab und fuhren mit dem Aufzug ins oberste Stockwerk des Gebäudes. Harper drückte sich an die verglaste Außenwand und betrachtete das Panorama, während sie sich an der Rezeption des Restaurants anstellten. Sie zeigte ihre Dienstmarke, worauf sie einen Fensterplatz für zwei Personen zugewiesen bekamen, von dem sie aus gut einer Viertelmeile Höhe freie Sicht in Richtung West Broadway und Fifth Avenue hatten.
»Beeindruckend«, sagte sie.
Es war mehr als beeindruckend. Die Luft war so frisch und klar, dass sie gut hundert Meilen weit sehen konnten. Braun und staubig erstreckte sich die Stadt tief unter ihnen im Licht der Herbstsonne. Grau und grün schimmerten die Flüsse. In weiter Ferne waren die Außenbezirke zu erkennen, die allmählich ins Umland übergingen, nach Westchester, Connecticut und Long Island. Auf der anderen Seite säumten die Häuser von New Jersey das Ufer des Hudson River, so weit das Auge reichte.
»Da drüben ist Bob«, sagte sie.
»Irgendwo da drüben«, pflichtete Reacher ihr bei.
»Wer ist dieser Bob?«
»Er ist ein Arschloch.«
Sie lächelte. »Keine allzu genaue Beschreibung, kriminalistisch gesehen.«
»Er ist in einem Magazin beschäftigt«, sagte Reacher. »Schiebt Dienst von neun bis fünf, wenn er jeden Abend in der Bar ist.«
»Er ist nicht unser Mann, stimmt’s?«
Der ist ein Niemand , dachte Reacher.
»Er ist ein kleiner Gauner«, meinte er. »Wenn er die Ware auf dem Parkplatz vor einer Bar aus dem Kofferraum seines Autos verkauft. Keinerlei Ehrgeiz. Da steht nicht genug auf
dem Spiel, dass es sich lohnt, deswegen Menschen umzubringen.«
»Und inwiefern kann er uns dann weiterhelfen?«
»Er kann Namen nennen. Er hat Zulieferer, und er weiß, wer die anderen Beteiligten sind. Einer der anderen wird uns weitere Namen nennen, und so weiter und so fort.«
»Kennen die denn einander?«
Reacher nickte. »Die teilen sich den Kuchen untereinander auf. Jeder ist auf irgendwas Bestimmtes spezialisiert, hat sein eigenes Revier, so wie das auch sonst üblich ist.«
»Könnte uns aber viel Zeit kosten.«
»Mir sagt die Gegend hier zu«, sagte Reacher.
»Die Gegend? Wieso?«
»Weil sie sich anbietet. Wenn man bei der Army ist und Waffen stehlen will, wo klaut man sie dann? Man schleicht jedenfalls nicht bei Nacht durch die Unterkünfte und fischt sie aus den Feldkisten. Geht man so vor, hat man eine Gnadenfrist von allenfalls etwa acht Stunden, bis die Jungs aufwachen und sagen, he, wo ist meine verdammte Beretta? «
»Und wo stiehlt man sie dann?«
»Irgendwo, wo sie keiner vermisst, und das heißt, aus einem Lager. Man muss sich ein großes Nachschubmagazin suchen, wo sie eingemottet sind, bis der nächste Krieg ausbricht.«
»Und wo gibt es so etwas?«
»Nehmen Sie eine Karte, auf der sämtliche Interstate Highways eingezeichnet sind.«
»Wieso Interstate Highways?«
»Was glauben Sie denn, weshalb man
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