Zeit der Rache: Ein Jack-Reacher-Roman (German Edition)
nickte. »Natürlich. Deswegen habe ich mich ja für den Posten dort beworben. Es gibt allerlei Bücher und Artikel darüber.«
»Ich habe sie auch gelesen. Erstes Kapitel: Fall erfolgreich aufgeklärt. Zweites Kapitel: Fall erfolgreich aufgeklärt. Und so weiter und so fort. Nicht ein Kapitel über die Fälle, bei denen sie sich geirrt haben. Da fragt man sich doch, wie viele das wohl waren. Eine ganze Menge, nehme ich an. Zu viele, als dass man darüber berichten will.«
»Und was wollen Sie damit sagen?«
»Ich will damit sagen, dass diese Fahndungsmethode nach dem Zufallsprinzip immer einen guten Eindruck macht, solange man die Erfolge ins rechte Licht rückt und die Fehlschläge unter den Teppich kehrt.«
»Das machen die aber nicht.«
Er nickte. »Nein. Nicht unbedingt. Sie raten nicht nur, sie versuchen, damit zu arbeiten. Aber eine exakte Wissenschaft ist es nicht. Sie gehen nicht streng methodisch vor. Und außerdem sind sie eine Abteilung unter vielen, die um Prestige, Geld und Stellung rangeln. Sie wissen doch, wie Behörden funktionieren. Derzeit finden gerade Etatberatungen statt. Da kommt es in erster, zweiter und dritter Linie darauf an, dass man seine eigenen Interessen wahrt und sich gegen Kürzungen zur Wehr setzt, und das geht am besten, indem man die eigenen Erfolge rausstreicht und die Fehlschläge verheimlicht.«
»Sie glauben also, das Profil ist nutzlos?«
Er nickte. »Ich weiß es. Es ist in sich falsch und enthält zwei Behauptungen, die sich nicht miteinander vereinbaren lassen.«
»Was für Behauptungen?«
Er schüttelte den Kopf. »Kein Kommentar, Harper. Nicht, bevor sich Blake dafür entschuldigt, dass er Jodie gedroht hat, und Julia Lamarr von dem Fall abzieht.«
»Wieso sollte er das tun? Sie ist sein bester Profiler.«
»Genau.«
Der Chauffeur von der Fahrbereitschaft holte sie am National Airport in Washington ab. Spätabends trafen sie in Quantico ein, wo sie von Julia Lamarr in Empfang genommen wurden. Sie war allein. Blake befand sich auf einer Etatkonferenz, und Poulton hatte Feierabend gemacht.
»Wie geht es ihr?«, fragte Lamarr.
»Ihrer Schwester?«
»Meiner Stiefschwester.«
»Der geht’s gut«, sagte Reacher.
»Wie sieht das Haus aus?«
»Sicher«, antwortete er. »Abgeriegelt wie Fort Knox.«
»Aber abgelegen, stimmt’s?«
»Sehr abgelegen«, erwiderte er.
Sie nickte. Er wartete.
»Es geht ihr also gut?«, sagte sie.
»Sie möchte, dass Sie sie besuchen«, gab er zurück.
Sie schüttelte den Kopf. »Ich kann nicht. Ich bräuchte eine ganze Woche, um dort hinzukommen.«
»Ihr Vater liegt im Sterben.«
»Mein Stiefvater.«
»Meinetwegen. Sie meint, Sie sollten ihn besuchen.«
»Ich kann nicht«, sagte sie erneut. »Ist sie noch so wie früher.«
Reacher zuckte die Achseln. »Ich weiß nicht, wie sie früher war. Ich habe sie erst heute kennen gelernt.«
»Gekleidet wie ein Cowboy, braun gebrannt, hübsch und sportlich?«
»Ganz genau.«
Versonnen nickte sie wieder. »Anders als ich.«
Er musterte sie. Das billige Kostüm war abgewetzt und zerknittert. Sie wirkte blass, mager und spröde. Die Mundwinkel waren nach unten gezogen, die Augen glanzlos.
»Ja, anders als Sie«, bestätigte er.
»Ich hab’s Ihnen doch gesagt«, meinte sie. »Ich bin die hässliche Schwester.«
Sie ging weg, ohne noch etwas zu sagen. Harper führte ihn in die Cafeteria, wo sie ein spätes Abendessen zu sich nahmen. Anschließend brachte sie ihn auf sein Zimmer und schloss ihn wortlos ein. Er horchte auf ihre Schritte, die auf dem Korridor verhallten, zog sich dann aus und duschte. Danach legte er sich auf das Bett, dachte nach und hoffte. Und wartete. Wartete auf den nächsten Morgen.
13
Der Morgen brach an, aber es war noch nicht sein Tag. Er wusste es, sobald er in die Cafeteria kam. Er war früh aufgewacht und wartete bereits eine halbe Stunde, als Harper auftauchte. Sie schloss die Tür auf und kam hereingefegt, hatte den gleichen Anzug an wie am ersten Tag und wirkte frisch und elegant. Offenbar besaß sie drei Anzüge, die sie abwechselnd trug. Drei Anzüge dürften in etwa hinkommen, schätzte er, wenn man von dem Gehalt ausging, das sie wahrscheinlich bezog. Das waren drei Anzüge mehr, als er besaß, aber er hatte auch kein festes Gehalt.
Gemeinsam fuhren sie mit dem Aufzug nach unten und gingen zwischen den Gebäuden hindurch. Das ganze Gelände wirkte still und friedlich, fast wie am Wochenende. Dann wurde ihm klar, dass Sonntag war. Die Sonne
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