Zeit der Raubtiere
den Ballsaal. Evas Kinn reichte nicht ganz an seine Schulter heran, und sie hatte das Gesicht von ihm abgewandt, so dass sein Blick auf ihr Profil traf.
»Wie hat Ihr Mann reagiert, als Sie es ihm sagten?«, fragte er so leise, als teilten sie ein Geheimnis.
»Gar nicht. Ich habe den Brief erst gestern abgeschickt«, antwortete Eva in seine Jacke hinein.
Er fragte sich, ob sie ihren Mann jemals geliebt hatte und ob sie ihn trotz allem, was sie sagte, noch immer liebte. Es machte ihm Angst. Vielleicht gab es ja schon einen anderen. Bei Frauen wusste man nie. Aber tief im Herzen wusste er, dass er sich damit selbst belog, damit es nichts zu bedeuten hatte, dass er sie begehrte.
»Werden Sie irgendwann noch einmal heiraten?« Er spürte einen kleinen Adrenalinstoß, während er auf die Antwort wartete.
»Nein, ich heirate nie wieder.«
Stunden später hielt er sie in der Dunkelheit des Hotelzimmers. Die Bettlaken waren zu ihren Füßen zerwühlt. Er betrachtete die vagen Umrisse seiner Uniform, die über dem Schreibtischstuhl hing. Seine Hand strich über die Rundung von Evas Brust. Ihre feuchte Haut verströmte den Duft der Badeseife. Es war vollkommen still. Einen Augenblick lang vermisste er das Dröhnen der Wasserbomben auf der Jacob Jones. Er wollte Evas Stimme hören, doch gleichzeitig fürchtete er sich vor dem, was sie sagen könnte, oder vor dem, was er von ihr hören wollte. Deshalb sagte er nichts, fragte nichts, bis eine über ihnen hinwegfliegende V2 die Stille durchbrach.
»Es ist Mitternacht«, sagte Hughes. »Silvester.«
»Ja.«
»Vielleicht geht der Krieg in diesem neuen Jahr zu Ende.«
»Vielleicht.«
Er spürte das, was zwischen ihnen ungesagt blieb, als wäre es ausgesprochen worden.
Eva drehte ihm das Gesicht zu und blickte ihn an, und ihr Gesicht war das Letzte, was er sah, bevor er einschlief.
Er wachte früh auf und hatte das Gefühl, ersticken zu müssen. Leise stieg er aus dem Bett und zog sich an. Er schob den Verdunkelungsvorhang ein wenig zur Seite und sah, dass der Neujahrstag grau war und die schwache, uringelbe Sonne vergeblich die Wolkendecke zu durchbrechen versuchte. Er ging ohne einen Blick auf Eva und ließ die Tür lautlos ins Schloss fallen.
Es war still im Hotel. Nur seine Schritte auf dem Marmorboden des Foyers waren zu hören. Draußen atmete er tief die feuchte, kalte Luft ein, steckte die Hände in die Taschen und ging los.
Die Stadt wirkte hässlich zu dieser Stunde, kaputt und schmutzig. Er wünschte, der Himmel wäre klar und die Luft schneidend, so wie in Cambridge um diese Jahreszeit. Er versuchte, nicht an Nick zu denken, doch je mehr er sich anstrengte, umso mehr dachte er an sie. Seine Frau mit ihrem wunderschönen Lächeln, seine Frau, die auf ihn wartete. Er hasste sich. Dieser verdammte Krieg, der alles durcheinanderwirbelte. Niemand konnte an einem Tag ein bestimmter Mensch sein und am nächsten ein völlig anderer, aber genau das machte der Krieg mit einem. Den Menschen, der er an diesem Morgen war, konnte er auf den Tod nicht ausstehen. Er war schwach. Er hatte versprochen, Nick zu lieben und zu beschützen, stattdessen hatte er sie betrogen. Sie vertraute ihm – mehr noch, sie brauchte ihn. Sie liebte ihn. Ihn ekelte es vor sich selbst.
Er streifte eine Weile ziellos umher; dann machte er sich auf den Weg zum Piccadilly, dort war eine Rotkreuzstation. Drinnen herrschte munteres Treiben. Hughes sah auf die Uhr, es war halb neun. Er stellte sich in die Warteschlange, bekam einen Kaffee und einen Doughnut und setzte sich an einen kleinen Holztisch vor dem Fenster. Er trank den Kaffee und sah zu, wie die Sonne Kraft gewann. Dann aß er den Doughnut und tunkte mit dem letzten Bissen die letzten Tropfen Kaffee auf. Allmählich ging es ihm besser. Er wusste, was er zu tun hatte.
Er trat an den Tresen, bat eines der Mädchen um einen Stift und ein Blatt Papier, ging an seinen Tisch zurück und begann einen Brief an Nick zu schreiben.
Dieser Brief erreicht Dich wahrscheinlich völlig unerwartet, und ich will nicht, dass Du Dich sorgst, aber ich habe Dir etwas zu sagen. Der Krieg macht die Welt sonderbar und mich auch. Deshalb will ich Dich wissen lassen, dass ich Dich liebe, was immer auch geschieht. Ich habe Dich geliebt, als wir zum ersten Mal miteinander tanzten und Du mich wegen meiner zwei linken Füße geneckt hast. Ich habe Dich geliebt, als ich Dich fragte, ob Du meine Frau werden willst, und Du das Gesicht abwandtest. Ich habe Dich
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