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Zeit der Sinnlichkeit

Zeit der Sinnlichkeit

Titel: Zeit der Sinnlichkeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rose Tremain
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»Bethlehem«, sagte sie.
    Nun betet sie in der Nacht zu ihrer Puppe, die sie nicht anfaßt, die aber zum Mittelpunkt ihres nächtlichen Wachens geworden ist. Sie sieht in ihr ein kleines Ebenbild des Jesuskindes. Die Tatsache, daß dessen Gesicht – sofern es überhaupt Ähnlichkeit mit einem menschlichen Antlitz hat – mehr dem Rosie Pierpoints als dem eines neugeborenen Christuskindes gleicht, ist für sie ohne Bedeutung. Sie sieht den Jesus ihrer Phantasie.
     
    Als der Mai näher rückte, hörten wir aus Earls Bride, daß die Pest, über die schon so lange geraunt worden war, nun London erreicht hatte, »so daß dort jetzt jede Woche mehr als siebenhundert Tote gezählt werden«.
    Es wurde uns gesagt, daß man »aus zuverlässiger Quelle, nämlich von Leuten aus der Postkutsche« erfahren habe, daß sich der König mit seinem gesamten Gefolge nach Hampton Court begeben habe, wo er möglicherweise auch nicht lange sicher sein würde. Ein dermaßen heftiger Ausbruch, sagten die Leute von Earls Bride, würde auf dem Wasserwege und mit dem Wind in alle Richtungen getragen, und auch die Leute, die aus der Stadt flohen, würden die Pest mit ihrem Atem in alle Grafschaften bringen.
    Die Betreuer des Whittlesea setzten sich am Feuer zusammen, falteten die Hände und baten Jesus, »die giftige Saat des Schwarzen Todes nicht bei uns auszusäen, damit das Leid, dessen Zeuge wir hier jeden Tag sind, nicht noch größer wird«.
    Edmund (dessen Augen und Bart vor Gesundheit so glänzen, daß es einem schon schwerfällt, sich vorzustellen, er könnte an einem Fieber darniederliegen) schlug daraufhin
vor, daß wir die Tore des Whittlesea Hospitals schließen und nur die hereinlassen sollten, von denen wir Stroh, Holz, Mehl und Fleisch kaufen.
    Da wir ein vergessener Ort sind, gibt es nur wenige Leute, die überhaupt ihren Weg zu uns finden, und so meinte ich, daß diese Vorsichtsmaßnahme wohl kaum nötig sei. Doch Ambrose erinnerte mich daran, daß gelegentlich die Verwandten der hier Eingekerkerten aus London oder Lynn oder Newmarket zu Besuch kämen und Lebensmittel, Geld und Kleidung mitbrächten. »Diese Leute sind es«, sagte er, »die wir, solange die Seuche grassiert, abweisen müssen.«
    Eleanor, Hannah und Edmund nickten zustimmend. Daniel erhob sich, legte die Hände bogenförmig vor den Mund und fing an, in sie hineinzublasen, so, als wolle er sich das Pfeifen beibringen. Pearce schniefte und holte sein Fläschchen Gegengift aus der Tasche. Dann tat er seine Meinung kund, daß diese Verwandtenbesuche »für einige unserer notleidenden Freunde die einzige Unterbrechung des täglichen Einerleis sind. Wenn wir sie verbieten«, sagte er, »werden viele der inneren Leere und Verzweiflung anheimfallen.«
    Es ist mir aufgefallen, daß die Betreuer des Whittlesea in der Diskussion sehr höflich miteinander umgehen; nur Pearce neigt zu Anwandlungen von Schmollen. Daher wurde auch jetzt über das Schließen der Tore für Besucher auf sehr liebenswürdige Weise gesprochen; jeder sagte seine Meinung und hörte denen, die widersprachen, höflich zu. Daniel war der einzige, der sich nicht an der Diskussion beteiligte, nur ab und zu kam hinter seiner hohlen Hand ein merkwürdiges Geräusch hervor, das ein wenig an den Ruf der Eule erinnerte, den ich von meinem Schlafzimmer auf Bidnold aus gehört hatte. Doch niemand schenkte ihm Beachtung.
    Ich stimmte mit Pearce überein. Ich wußte zum Beispiel, daß Katharines Mutter versprochen hatte, im Sommer zu Besuch zu kommen, und daß Katharine sehnsüchtig auf diesen Tag wartete und hoffte, ihre Mutter werde sie dann in die Arme schließen. Der Gedanke, daß wir diese Frau aus Angst um uns selbst wieder wegschicken würden, löste in mir ein starkes Unbehagen aus. Ambrose setzte sich jedoch mit großem Eifer für Edmunds Vorschlag ein. Er meinte, daß es immer noch besser sei, wenn einige unter Entzug und Einsamkeit litten, als wenn alle umkämen und die Anstalt unterginge. »Denn wo sollten die Überlebenden dann hingehen«, fragte er, »wenn nicht ins Irrenhaus in London, welches der traurigste Ort auf der ganzen Welt ist? Und wo sie dann aller Voraussicht nach doch noch an eben der Pestilenz sterben würden, vor der wir sie schützen wollten!«
    Da Ambrose ein riesiger Mann mit einer mächtigen Lunge ist, hat er auch eine sehr kräftige Stimme. Mir kam es vor, als habe sie die kleine Wohnstube so vollkommen ausgefüllt, daß Pearces Stimme, als er wieder sprach, schwach und

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