Zeit der Sternschnuppen
Schwester.
»Zweimal oder dreimal?« erkundigte sich diese.
»Dreimal«, bestimmte er, und zu mir: »Das bringen wir schon
wieder in Ordnung. Wir brauchen viel Ruhe und Schlaf – wir
haben doch keine Schlafstörungen?«
»Ich glaube nicht. Nur Hunger haben wir.«
»Vorerst nur leichte Kost«, ordnete er an. Ohne ein weiteres
Wort ging er, gefolgt von seinen Kollegen und Schwester
Hildegard, zur Tür.
»Racha!« rief ich ihm nach.
Er blieb stehen. »Wie bitte?«
»Ich habe Racha gesagt.«
Der Professor überlegte eine Sekunde, nickte dann
zustimmend. »Später, mein Guter, das bringen wir alles in
Ordnung.«
Ich war allein. »Aul«, seufzte ich, »du wirst mir kein Wort
glauben, wenn ich wieder bei dir bin. Du wirst fragen: Warum
hast du so lange geschwiegen? – Lieber Sternenhimmel,
warum muß ausgerechnet mir so etwas widerfahren? Hier
keine Zeugen – und auf dem sechsten Mond auch nicht.« Ich überprüfte die Gitter am Fenster. Sie waren stabil. Die
Flucht konnte also nur über den Korridor führen, aber dazu
benötigte ich meine Kleidung.
Eine Schwester trat ein. Sie trug ein Tablett mit Tee,
Weißbrot und Marmelade. »Soll das ein Mordversuch sein?«
fragte ich und nahm ihr das Tablett aus den Händen. »Ich habe
Hunger wie ein Bär nach dem Winterschlaf.«
Sie versprach, noch etwas Weißbrot zu bringen.
21
Meine guten Absichten erstickten im Dschungel von Vorurteilen und Verdächtigungen. Das Außergewöhnliche schweigend zu erdulden ging noch an, war Privatsache. Es zu verkünden kam einer biblischen Sünde gleich, für die ich nun büßen sollte. Ein lächerlicher Zufall hatte mich zum zweiten Male in eine Situation verstrickt, die zu entwirren der Lösung der Quadratur des Kreises gleichkam. Alles schien sich gegen mich verschworen zu haben und willens zu sein, mich auf den Pfad biederer Tugenden zurückzuführen. Dazu gehörten nun auch der undefinierbare Frühstückstee und die Marmeladenbrote. Auls Warnung, allmählich zu normaler Kost überzugehen, und meine eigenen Erfahrungen mit ihrem Vater waren mir noch lebhaft im Gedächtnis. Deshalb schluckte ich die mageren Brote und meinen Unmut hinunter, ließ den Magen weiter knurren und begab mich auf den Gang, um nach Fluchtwegen zu forschen.
Schwester Hildegard hastete an mir vorbei, deutete in eine Richtung. »Toiletten sind dort«, rief sie.
Ich ging weiter, bemerkte eine Flügeltür. Als ich sie öffnen wollte, tippte mir jemand auf die Schulter. Ein Mann in weißem Kittel stand vor mir. Seine Statur war respektabel. Er hätte der Sparringspartner von Cassius Clay gewesen sein können. Wohin ich wolle, erkundigte er sich, im Schlafanzug sei es viel zu kalt für einen Spaziergang. Gegen diese Logik vermochte ich nichts einzuwenden. Ich trat den Rückzug an.
Unterwegs begegnete ich Schwester Hildegard erneut. »Ich brauche meine Kleidung, Schwester«, sprach ich sie an.
»Wozu?« fragte sie. »Zu einem Spaziergang kommen Sie heute nicht mehr. Wir müssen noch ins Labor zur Blutsenkung und zum Röntgen. Danach kommt der Test bei Doktor Kallweit. Außerdem wollen wir viel ruhen, hat der Professor gesagt. Ich bringe Ihnen gleich Ihre Tabletten.«
»Wo finde ich Professor Grasmais?«
»Er ist jetzt in seiner Privatpraxis.«
Ich ging in mein Zimmer zurück. Dort schrubbte eine Reinemachefrau den Fußboden. Nicht aufregen, suggerierte ich mir, du mußt ganz ruhig bleiben, alles kühl und sachlich analysieren. Fängst du erst an, Krach zu schlagen, so erblicken sie darin nur neue Symptome…
Ich legte mich aufs Bett. Ich muß mit Johanna in Verbindung treten, nur sie kann mich aus diesem Dilemma befreien. Vielleicht sollte ich ihr sagen, daß alles nur ein Scherz war. Ich gestehe, bei einer anderen gewesen zu sein… Ungewollt stieß ich zuerst einen tiefen Seufzer, dann einen Fluch aus.
Ohne ihre Tätigkeit zu unterbrechen, sagte die Reinemachefrau: »Immer schimpfen Sie, erleichtern Sie sich.«
»Kann man hier telefonieren?« erkundigte ich mich.
»Das müssen Sie den Doktor fragen«, sagte sie, »ich mache hier nur sauber.«
Wäre ich doch bei dir geblieben, Sternschnuppchen!
Schwester Hildegard brachte die Tabletten. Sie gab mir zwei braune Kugeln, füllte ein Glas mit Wasser und blieb bei mir, bis ich die Kugeln im Mund hatte und das Wasser trank. Als sie draußen war, holte ich die zwischen Gaumen und Zunge haftenden Tabletten wieder hervor, wickelte sie in Papier und verbarg sie im Nachtschrank.
Sie besaßen mein Blut, etliche Aufnahmen von meiner
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