Zeit der Sternschnuppen
gelöstes Rätsel, jede neue Erkenntnis setzt zugleich neue Fragezeichen.
»Ich war zwei Jahre alt, als wir unser Haus verließen«, fing Aul an zu erzählen. »Vater hat mir unsere Flucht wohl hundertmal geschildert. Die Perser waren in unser Land eingefallen, wollten Babylon nehmen. Zu der Zeit hatten wir die Stadt verlassen, waren bei einem Freund meines Vaters zu Gast. Dort erfuhr Vater von der Belagerung der Stadt. Er wollte zurück, war überzeugt, daß die Stadt uneinnehmbar sei. Wir kamen jedoch nicht mehr hinein, die Soldaten des Kyros waren überall. Sie verfolgten uns, Vater mußte die Wagen zurücklassen, seine Sklaven liefen zu den Persern über, die Mägde gerieten in ihre Gewalt. Am Ende hatte Vater nur noch mich. Er trug mich auf dem Arm, floh nach Chaldaci, wanderte durch Sandwüsten, bis unsere Nahrung aufgebraucht war. Eines Abends betete Vater zu den alten Göttern, zu Marduk, Nergal und Samas, dem Sonnengott. Was dann geschah, mußte auf Vater wohl wie ein Wunder wirken, denn tatsächlich stieg Samas vom Himmel herab…«
Aul lächelte versunken. »Du hast selbst erlebt, wie es aussieht, wenn ein Transporter landet. Me gab den Kleinen den Befehl, Vater und mich an Bord zu bringen. So gelangten wir in das Raumschiff ›Quil‹. Kurz nach unserer Ankunft verließ die ›Quil‹ das Sonnensystem. Sie flog zu einem Stern in der Milchstraße. Die meiste Zeit verbrachten wir im Schlaf. Als wir zurückkehrten, waren siebzehn Erdenjahre an Bord des Raumschiffes vergangen – auf der Erde dagegen zweieinhalbtausend Jahre. Du kannst leicht errechnen, wie groß unsere Geschwindigkeit war.«
Das konnte ich ganz gewiß nicht, aber es war schmeichelhaft, daß sie mir solche mathematischen Fähigkeiten zutraute. »Was ist mit diesem Me? Deine Bemerkung vorhin, er sei irgendwo verbrannt und dennoch am Leben, war doch wohl nur ein Scherz?«
»Durchaus nicht«, versicherte Aul, »jeder Roboter kann es dir bestätigen. Me ist verbrannt…«
»Und plaudert dennoch von Zeit zu Zeit mit dir«, spöttelte ich.
»Ja«, sagte sie ernsthaft. »Ich habe ihn nie gesehen, seine Anweisungen erhalte ich über Funk. Er hatte auch veranlaßt, mich während des langen Fluges umzuprogrammieren. So lernte ich die Welt in Gleichungen und Energieumwandlungen kennen und begreifen. Nur Vater blieb, wie er war. Sein hohes Alter erlaubte keine Umprogrammierung. Ich glaube, richtig hat er bis heute noch nicht begriffen, daß er hinter der Erdenzeit zurückgeblieben ist – für ihn sind siebzehn Jahre immer und überall die gleiche Zeit…«
Aul war näher gerückt, lehnte den Kopf an meine Schulter. Ich streichelte flüchtig ihre Wangen, drückte ihre Hand.
»Vorhin hast du gesagt, ich sei hübsch. Ist es wahr, daß ich hübsch bin?«
»Hm, mir gefällst du jedenfalls. Auf der Erde würden sich bestimmt viele junge Männer nach dir umsehen…«
Ich konnte nicht ahnen, welche Gefühle meine Berührung und meine Worte in ihr wachriefen. Sie weinte auf einmal. Unbeholfen und verwirrt über ihren Gefühlsausbruch, versuchte ich sie zu trösten, sie unterbrach mich schluchzend und stammelte: »Ich hasse die Roboter, ich kann sie nicht mehr ertragen! Du mußt für immer bei mir bleiben, ich will nicht mehr allein sein…«
Lieber Himmel, dachte ich, muß es immer gleich für ewig sein? Die bienenfleißigen Roboter auf einmal zu hassen schien mir auch übertrieben. Auf jeden Fall stellte ich mit Genugtuung fest, daß Auls Gefühlsleben und Charme auf dem endlosen Flug keinen Schaden erlitten hatten. In ihr vereinte sich weibliche Neugier mit reizender Naivität. War es am Ende gar ihre Idee gewesen, mich an Bord bringen zu lassen?
Ich scheute mich, sie danach zu fragen, rückte sacht von ihr fort und sagte tröstend: »Vorerst bin ich ja noch ein Weilchen hier, Aul. Vielleicht gibt es später eine Möglichkeit, daß wir zusammen zur Erde zurückkehren. Auch deinen Vater könnten wir mitnehmen. Fürs erste würdet ihr im Bauernhaus auf Manik Maya wohnen, Platz ist dort genug…«
»Es wäre wunderbar«, sagte sie verträumt, »einmal den Fuß auf einen Planeten zu setzen – seit wenigstens fünfhundert Jahren träume ich davon. Wären wir dann immer zusammen?«
»Gewiß – zumindest sehr oft«, sagte ich ausweichend und dachte an Johanna. Aul konnte nicht ahnen, welche Komplikationen sich aus ihrer Anwesenheit ergeben würden. »Da ist noch manches zu bedenken, Aul«, erklärte ich behutsam, »es geht nicht nur darum, einmal kurz den
Weitere Kostenlose Bücher