Zeit der Stürme: Vier Highland-Kurzromane
schien sich so sicher zu sein wie eine Seherin, schien die Dinge rückblickend zu schildern, aus der Perspektive einer weniger gefahrvollen Zeit.
Und doch war sie aus dieser Zeit zurückgekehrt, um wieder bei Onkel Jamie zu sein.
Einen Moment lang gab er sich dem wilden Fantasiegespinst hin, dass Lillie nicht tot war, sondern von den Feen in eine ferne Zeit entführt worden war. Er konnte sie zwar nicht sehen oder berühren, doch das Bewusstsein, dass sie am Leben war … Vielleicht war es ja dieses Wissen, dieser Gedanke gewesen, der Onkel Jamie vor dem Zusammenbruch bewahrt hatte. Er schluckte krampfhaft.
»Jared«, sagte er und räusperte sich. »Was war dein Eindruck von Tante Claire? Als sie hier gelebt hat?«
Jared sah überrascht aus, doch er ließ sein Glas auf das Knie sinken und spitzte nachdenklich die Lippen.
»Sie war eine hübsche Frau, das kann ich dir sagen«, sagte er. »Sehr hübsch. Aber wenn ihr etwas nicht gefiel, hatte sie ein Mundwerk wie die grobe Seite einer Raspel – und sie hat immer geradeheraus ihre Meinung gesagt.« Er nickte, als erinnerte er sich an etwas Bestimmtes, das Claire gesagt hatte, und grinste plötzlich. »Oh ja, das hat sie.«
»Aye? Der Goldschmied – Rosenwald – hat von ihr gesprochen, als ich bei ihm war, um den Messkelch in Auftrag zu geben, und er ihren Namen auf der Liste gesehen hat. Er hat sie La Dame Blanche genannt.« Es war zwar keine Frage, aber er hob am Ende etwas die Stimme, und Jared nickte, während sich sein Lächeln zu einem Grinsen verbreiterte.
»Oh, aye, ich erinnere mich. Das war Jamies Idee. Hin und wieder war sie ohne ihn an gefährlichen Orten unterwegs – manche Leute ziehen die Gefahr einfach an –, also hat er das Gerücht verbreitet, sie sei La Dame Blanche. Du weißt doch, was eine Weiße Dame ist, oder?«
Michael bekreuzigte sich, und Jared folgte seinem Beispiel und nickte.
»Aye, genau. Das hat das Gesindel auf der Straße nachdenklich gemacht. Eine Weiße Dame kann einem das Augenlicht rauben oder einem Mann die Hoden verschrumpeln lassen und bestimmt noch weitaus mehr, falls ihr danach zumute ist. Und ich wäre der Letzte, der sagen würde, dass Claire Fraser das nicht könnte, wenn ihr danach ist.«
Jared hob sich geistesabwesend das Glas an die Lippen, trank einen größeren Schluck als beabsichtigt und hustete, so dass die Tropfen des Gedenkwhiskys durch das halbe Zimmer flogen. Zu seinem eigenen Schrecken musste Michael lachen.
Jared, der immer noch hustete, wischte sich den Mund ab, doch dann setzte er sich kerzengerade hin und hob sein Glas, das immer noch ein paar Tropfen enthielt.
»Auf deinen Pa. Sláinte mhath! «
»Sláinte mhath!« , wiederholte Michael und trank den Rest des Whiskys in seinem Glas. Entschlossen stellte er es hin und erhob sich. Heute Abend würde er nichts mehr trinken.
» Oidche mhath, a charaidh .«
»Gute Nacht, Junge«, sagte Jared. Das Feuer war heruntergebrannt, doch es warf immer noch einen warmen roten Schimmer auf das Gesicht des alten Mannes. »Schlaf gut.«
In der nächsten Nacht
MICHAEL LIESS SEINEN SCHLÜSSEL mehrmals fallen, bevor es ihm endlich gelang, ihn in dem altmodischen Schloss herumzudrehen. Es lag nicht am Alkohol; seit dem Wein beim Abendessen hatte er keinen Tropfen mehr getrunken. Stattdessen war er über die ganze Île-de-France und zurückspaziert, begleitet nur von seinen Gedanken; er zitterte am ganzen Körper, und er war taub vor Erschöpfung, doch er war sich sicher, dass er schlafen würde. Jean-Baptiste hatte die Tür auf seine Anweisung hin nicht verriegelt, doch einer der Bediensteten lag auf einer Sitzbank im Eingangsflur und schnarchte. Er lächelte schwach, obwohl es ihn anstrengte, die Mundwinkel zu heben.
»Verriegelt die Tür und geht zu Bett, Paul«, flüsterte er über den Mann gebückt und rüttelte ihn sacht an der Schulter. Der Bedienstete bewegte sich und seufzte, doch Michael wartete nicht ab, ob er vollständig aufwachte. Auf dem Treppenabsatz brannte eine Öllampe, eine kleine Kugel aus buntem Muranoglas. Sie hatte schon dort gehangen, als er vor Jahren aus Schottland zu Jared gezogen war, und ihr Anblick tröstete ihn und zog seinen schmerzenden Körper die breite, dunkle Treppe hinauf.
Bei Nacht ächzte das Haus und führte Selbstgespräche; alle alten Häuser taten das. Heute Nacht jedoch schwieg es; das mächtige, in Kupfer gefasste Dach war abgekühlt, und das Gebälk hatte sich dem Schlaf ergeben.
Er warf die Kleider ab und
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