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Zeit der Wut

Zeit der Wut

Titel: Zeit der Wut Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Giancarlo de Cataldo
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einem gewissen Optimismus.
    – Könnten Sie mir sagen, wann man ungefähr damit rechnen kann?
    Doktor Fera zuckte mit den Achseln. Dabei rutschten die Ärmel seines Hemdes hoch und eine zweifellos echte Rolex kam zum Vorschein. Lupo musste lächeln. Er hätte in vier Minuten die Biografie dieses Arztes schreiben können, Leben, Tod und Wunder, inklusive Identität der Geliebten und Modell des Geländewagens.
    – Das menschliche Hirn ist nach wie vor ein Rätsel, glauben Sie mir. Sagen wir, je mehr Zeit vergeht, desto größer ist die Aussicht zu überleben. Ab dieser Nacht, würde ich sagen. Ich würde aber auch sagen, je mehr Zeit vergeht, desto geringer sind die Chancen auf vollständige Heilung. Auch wenn es in der Literatur Fälle gibt, wo Patienten nach zehn, sogar nach zwanzig Jahren aufwachen …
    – Ich verstehe.
    Lupo nickte. In einer neunstündigen Operation hatte der Arzt den Jungen dem Tod entrissen. Jetzt lag er im neunten Stockwerk des San-Giuliano-Krankenhauses und wurde von zwei Polizisten bewacht, die sich fragten, wieso so viel Aufwand betrieben wurde, um das Arschloch zu retten, das Alessio Dantini umgebracht hatte. Lupo machte Anstalten, den Mundschutz abzunehmen, was augenblicklich den besorgten Blick des Arztes zur Folge hatte. Er entschuldigte sich mit einem Kopfnicken und konzentrierte sich auf Fera. Er hatte in den Listen nachgesehen. Der Doktor war Freimaurer. Angesichts der Umstände war das eine gute Nachricht. Hier war eine vorsichtigere Vorgehensweise erforderlich. Aber das wahre Problem war die Zeit. Wenn sich die Dinge wirklich so verhielten, wie er allmählich vermutete, wie Dantini ihm zu verstehen gegeben hatte, durfte er keinen Augenblick verlieren. Sobald sich das Gerücht verbreitete, dass der Junge überlebt hatte, würden die anderen zur Tat schreiten. Es blieb ihm also nichts anderes übrig, als alles auf eine Karte zu setzen.
    – Ich danke Ihnen, Herr Doktor. Sie haben hervorragende Arbeit geleistet!
    – Ach, nicht der Rede wert! Danken Sie lieber dem Team, die Jungs sind …
    – Stellen Sie Ihr Licht nicht unter den Scheffel, ich bitte Sie!
    Mit einer unbestimmten Geste reichte ihm Lupo die Hand. Ein leichter Druck mit dem Mittelfinger auf die Handfläche, dann ein leichtes Streicheln, als er sie wieder zurückzog, wie eine wissende Zärtlichkeit. Im Blick des anderen, in seinen Augen hinter den dicken Brillengläsern (einer goldenen Designerbrille von Tom Ford, die zweifellos von gutem Geschmack zeugte) blitzte kurz Verwunderung auf. Dann entspannte sich der Arzt, er lächelte und erwiderte den traditionellen Gruß. Lupo bat ihn um seine Handynummer.

2.
    Daria wartete auf dem Gang auf ihn. An ihren geröteten Wangen und an dem kämpferischen Gesichtsausdruck war zu erkennen, dass sie gerade einen heftigen Wortwechsel mit den beiden Wachebeamten gehabt hatte, die ihrerseits Lupo nicht einmal grüßten, als er den Mundschutz anlegte und in die Gummihandschuhe schlüpfte.
    – Gewissen Leuten sollte man nicht erlauben, Uniform zu tragen, zischte Daria, so laut, dass ihre Kollegen sie gewiss hören konnten.
    – Versetz dich in ihre Lage. Sie hatten Dantini gern und sind sich sicher, dass der Junge ihn umgebracht hat …
    – Das glaube ich auch, aber das ist noch immer kein Grund, so einen Scheißdreck über Folter, Pinochet und die Todesstrafe daherzufaseln!
    – Ich mag es nicht, wenn du so ordinär redest. Und auch nicht, wenn du die Lautstärke erhöhst. Analysieren wir lieber die Situation.
    Daria folgte ihm seufzend. Seit fünf Jahren arbeitete sie nun mit Nicola Lupo zusammen und mittlerweile hatte sie aufgegeben, ihn zu verstehen. Sie fragte sich nicht mehr, welche Gedanken er hinter dem kahlen Schädel und dem Schnurrbärtchen hegte, das an Marcello Mastroianni in
Scheidung auf italienisch
erinnerte. Lupo war ein Rätsel und würde es immer bleiben. Ein faszinierendes Rätsel, einverstanden, aber in gewissen Augenblicken reichte einem sowohl die Faszination als auch das Rätselhafte. Hin und wieder schadete ein bisschen gesunder Menschenverstand nicht.
    „Es ist nicht meine Schuld“, hatte er sich zu Beginn ihrer Zusammenarbeit gerechtfertigt. „Wenn überhaupt, dann gib meiner Heimat Sizilien die Schuld.“ Das hatte Falcone irgendwo geschrieben, in einem Artikel über Sciascia. „Wir leiden an einer Perversion der Logik. Unsere Logik übersteigt jede menschliche Grenze. Die Wurzel unserer Logik ist so verbogen, dass es an Perversion grenzt. Descartes ist

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