Zeit Des Zorns
imperialistischen Land zu leben. Das weiß die Gegenseite und versucht, Teile möglichen Protestes in der Bundesrepublik abzubrechen, indem sie ihre Kriegseinsätze »ökologisch« oder »feministisch« rechtfertigt. Mit einiger Wirkung wurde die erfolgreiche Unterstützung afghanischer Frauen durch Kampfeinsätze behauptet. Das deutsche Fernsehen zeigte einmal eine »Demonstration« afghanischer Frauen ohne Burka. Aber TV-Chefs wie Kamerateams wussten, dass die kleine Gruppe von Frauen sich nur in einem Hof hinter Mauern bewegte. 368
Die Krise verschiebt die Kräfteverhältnisse in der Welt. Massenarmut, Umweltkatastrophen, Aufstände, auch – von außen geschürte – Sezessionsbestrebungen, geostrategische Konflikte zwischen den USA, Russland, China, EU-Europa und anderen asiatischen Staaten. Es bedarf keiner allzu großen Vorstellungskraft, um das kriegsträchtige Potenzial allein in Zentralasien zu erahnen.
Nach wie vor wissen wir nicht, wann die Weltwirtschaftskrise vorbei und was ihr Höhepunkt gewesen sein wird, welche Kapitalfraktionen und Staaten am meisten von ihr profitiert haben werden. Wir stecken mitten in diesem Prozess. Wie viele Menschen werden durch die Krise an Hunger, Wassermangel und leicht heilbaren Krankheiten gestorben sein? Was wird aus den Sahraouis in den südalgerischen Flüchtlingslagern, wenn die internationalen Ernährungsprogramme schrumpfen oder gar ausbleiben und Deutschland und die EU weiter von ihrem schmutzigen Pakt mit Marokko profitieren? Was wird aus den Menschen um den früheren Aralsee und aus den usbekischen Baumwollarbeitern, wenn der Einsatz von nervenschädigenden und krebserregenden Pestiziden billiger bleibt (und profitabler) als eine Umstellung auf gesunde Baumwollanbaumethoden?
Bürgerkriege, Dürre, Krankheiten und Armut können zu Aufständen führen. Seitdem dieses Buch vor fast vier Jahren in seiner damaligen Fassung zum ersten Mal erschien, kam es zu weitgehend unerwarteten Widerstandsaktionen der Sahraouis, von Tunesien bis Ägypten zum »arabischen Frühling« (und zum arabischen Herbst, denn der vielköpfigen Schlange der Diktatur wurde nur ein nachwachsender Kopf abgeschlagen, die Militärdiktatur blieb), zur Bewegung der Indignados, der Empörten in Spanien, zur anhaltenden Revolte in Griechenland, zu Occupy und in der vielfach gespaltenen und reformistisch gelähmten deutschen Linken immerhin zu linksradikalen bis linken Aktionsbündnissen wie M 31 (März 2012) und Blockupy (Mai 2012).
Armut und Krieg bewirken, dass noch mehr Menschen versuchen, Europa zu erreichen. Klassenkampf drückt sich auch in Musik und Bildern aus. Im Frühjahr 2012 wurden wir mit gefühlten 500 Filmen zum 100. Jahrestag des Untergangs der Titanic überschüttet.Die Biografien einzelner Passagiere wurden uns bis ins Detail nahegebracht. Rund 1 500 Menschen auf der Titanic ertranken, darunter die meisten Arbeiter im Maschinenraum. Aber über sie gibt es meines Wissens nicht einen einzigen Film.
Etwa ebenso viele Menschen wie in jener Nacht im Atlantik ertrinken jedes Jahr im Mittelmeer, wenn sie versuchen, die Südküste Europas zu erreichen. Niemand – bis auf ein winziges Häuflein von Flüchtlingsorganisationen, Linken und Künstlern – bringt uns ihr Leben, ihre Sehnsüchte, ihren qualvollen Tod nah. Niemand taucht nach ihren Leichen und ihren Erinnerungen. Stattdessen erhalten Kapitäne Prämien, wenn sie vom Tod bedrohte Asylsuchende auf seeuntüchtigen Booten nicht retten; stattdessen rüstet auch Deutschland Frontex auf. Wir werden jeden Abend im Fernsehen mit den Börsenkursen behelligt, bleiben aber ohne Nachrichten über die Menschen, die im Mittelmeer ertrinken. Die EU ist, unter deutscher Führung, eine feindselige, rassistische »Gated Community« geworden, eine gegen Flüchtlinge und Migranten verbarrikadierte, waffenstarrende Gemeinschaft, in deren Inneren sich soziale Segregation und Ghettoisierung breit machen.
Manche Linke haben gehofft, dass die Krise viel mehr Menschen dazu bringen kann, die soziale Frage neu zu entdecken. Aber neuere empirische Studien wie die von Wilhelm Heitmeyer an der Universität Bielefeld zeigen, dass Aggressionen gegen die Schwächsten und ihre Ausgrenzung wachsen. Die sich von der Krise bedroht fühlende Mittelschicht antwortet im Allgemeinen nicht mit Solidarität und dem Wunsch nach mehr sozialer Gleichheit auf den sozialen Absturz anderer.
Aber es gibt auch Brüche. Selbstverständlichkeiten zerbröseln, gewohnte Blickwinkel
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