Zeit für mich und Zeit für dich
Auch an der Uni ging es nur darum, die Prüfungen zu bestehen. Manchmal lasen sie vor einer Prüfung nächtelang in Büchern, aber spätestens nach einer Woche konnten sie sich an nichts mehr erinnern. Als würde man sich mit Essen vollstopfen und gleich danach alles wieder auskotzen. Bulimie.
Bei mir war das anders. Ich musste nichts Bestimmtes lernen, ich konnte mir die Bücher aussuchen, die mir gefielen, sie mussten keinen Zweck erfüllen, keine gute Note einbringen, es ging allein um das Vergnügen, zu entdecken und zu erfahren. Es war Neugier, die mich zum Lesen trieb, nicht Pflichtgefühl. Immer mehr wollte ich wissen, es gab mir das Gefühl zu wachsen. Ich fand Gefallen daran, den Figuren der Bücher zu begegnen, mich mit ihnen auseinanderzusetzen, ja mich mit ihnen zu messen. Ich fühlte mich aufs engste mit ihnen [77] verbunden. Von Menschen zu lesen, die noch schwierigere und schlimmere Dinge durchlebten als ich, machte meine eigenen Sorgen erträglicher, und ich fühlte mich weniger allein, weil ich nicht der Einzige war, der gedemütigt wurde. Es gab noch mehr Menschen wie mich, ich brauchte mich nicht mehr so allein zu fühlen, und vor allem erfuhr ich viel Neues über mich selbst. Die Geschichten waren zwar erfunden, doch die Gefühle waren real, und ganz offensichtlich kannten die Autoren, was sie beschrieben. Plötzlich gab es lauter neue Menschen in meinem Leben, die die Macht hatten, meine Stimmung zu beeinflussen, mir neue Gedanken einzugeben, mir eine neue Art, zu leben und zu empfinden, aufzuzeigen.
Bei uns zu Hause gab es nur wenige Bücher, und viele Autoren waren für mich Neuland. Meine Eltern kannten die meisten nicht mal dem Namen nach. Die Welt war voller Möglichkeiten, aber wäre ich mit den Augen meiner Familie durchs Leben gegangen, hätte ich sie niemals wahrgenommen.
Ich begann, auch in der Bar zu lesen. Natürlich nicht morgens, aber sobald die Arbeit es zuließ, vor allem am Nachmittag, setzte ich mich an einen Tisch und las. Was aber nicht ganz so einfach ging, denn eigentlich gab es immer irgendwas zu tun. Manchmal, wenn ein Buch mich besonders fesselte, konnte ich nicht bis zum Abend warten. Ich versteckte es auf dem Klo und schloss mich immer mal wieder ein, um ein paar Seiten weiterzulesen.
Neben den Schriftstellern bevölkerten auch immer neue Sänger, Bands und Musiker mein Leben. Roberto [78] zeigte mir alles: Sam Cooke, Chet Baker, Nancy Wilson, Sarah Vaughan, Muddy Waters, Bill Withers, Creedence Clearwater Revival, The Who, Janis Joplin, The Clash, AC/DC , Crosby & Nash, Dire Straits, die Doobie Brothers, Eric Clapton, Grand Funk Railroad, Iggy Pop, Led Zeppelin. Oft übersetzte er mir die Texte und nahm meine Lieblingssongs für mich auf Kassette auf. Von Rock bis Pop, Jazz, Blues und Soul.
Eines Abends fragte ich ihn: »Woher kennst du das eigentlich alles? Ich meine, du hast mir all das gezeigt, aber wer hat es dir gezeigt?«
»Mein Vater. Ich bin mit Musik groß geworden. Und mit den Geschichten, die ich jetzt dir erzähle. Er hat mir von klein auf abends vor dem Einschlafen Bilderbücher vorgelesen. Ich hab sehr früh lesen gelernt. Mit fünfzehn habe ich angefangen, wie ein Verrückter Bücher zu verschlingen, so viele, dass meine Mutter sich schon Sorgen machte, weil ich immer mit einem Buch zu Hause hockte. Ich solle aufhören zu lesen und raus an die frische Luft gehen, meinte sie. In meinem Zimmer hatte ich ein Bücherregal. Ich nahm die Bücher meines Vaters aus dem Regal im Wohnzimmer, las sie und stellte sie in mein eigenes. Eines Tages sollten alle Bücher aus dem Wohnzimmer in meinem eigenen Regal stehen. Ich war wie besessen von dieser Idee… je mehr von den Büchern in meinem Regal standen, desto größer meine Befriedigung. Man musste mir nur ein Buch schenken, und ich war glücklich. Meine Mutter konnte das nicht verstehen. Sie sagte: ›Würde ich dich nicht rufen, würdest du nicht mal aufhören zu lesen, um zum Essen zu [79] kommen. Ich mache mir Sorgen um dich.‹ Das brauche sie nicht, antwortete ich, ich ginge manchmal einfach lieber durch die Unsichtbaren Städte spazieren, mit den Buendía durch Macondo oder mit Arturo Bandini durch Los Angeles. Meine Antwort führte nur dazu, dass sie sich noch mehr sorgte, und sie beschloss, mich zum Psychoanalytiker zu schicken.«
»Und was hat dein Vater dazu gesagt?«
»Mein Vater konnte dazu nichts mehr sagen. Er starb, als ich vierzehn war. Ich war nicht verrückt geworden, ich hatte nur
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