Zeit für mich und Zeit für dich
aber ich antwortete: »Klar, danke.«
Wir unterhielten uns ein bisschen, dann legte er eine Platte von den Doors auf und erklärte mir, woher die Band ihren Namen hatte. Es hatte mit einem Zitat von William Blake zu tun, der von den »Pforten der Wahrnehmung« gesprochen hatte, die, wenn sie offen stehen, alles so erscheinen lassen, wie es ist, nämlich unendlich. Dann erzählte er von Aldous Huxleys gleichnamigem Buch, das von Erfahrungen mit der Einnahme von Meskalin handelt, und fügte hinzu, dass der Autor, dessen Namen ich noch nie gehört hatte, an einem Kehlkopftumor gelitten und in seinen letzten Tagen nicht mehr [71] hatte sprechen können, weshalb er seine Frau auf einem Zettel bat, ihm LSD zu besorgen. Am folgenden Morgen war er tot – es war der Tag, an dem John F. Kennedy, Präsident der Vereinigten Staaten von Amerika, ermordet wurde. Jim Morrison, erzählte Roberto weiter, habe oft auf dem Dach seines Hauses in Venice Beach gesessen, um zu schreiben oder zu lesen, fast immer unter dem Einfluss von Drogen.
»Kannst du dir vorstellen, wie Jim Morrison auf einem Dach in Venice Beach sitzt, aufs Meer hinausblickt oder hinunter auf die Leute auf der Straße und Gedichte schreibt oder Bücher liest?«
Ich hatte keine blasse Ahnung, wer all die Leute waren, und wusste auch nicht, wo dieses Venice Beach lag. Ich schämte mich für meine Unwissenheit, doch er erklärte mir alles.
Ich weiß nicht, warum, aber bis dahin hatte ich immer geglaubt, dass Bücher, Theater, bestimmte Musik und bestimmte Filme nur für die Reichen gemacht wären. Beim Gedanken daran hatte ich das gleiche Gefühl wie beim Anblick eines Mercedes oder einer Villa mit Swimmingpool: alles Dinge, die für eine andere Sorte Mensch bestimmt waren.
Doch Roberto, der mir nicht wie der Sohn eines reichen Vaters oder eines Professors vorkam, bezog mich ein, sprach zu mir über all die Dinge, von denen ich immer gedacht hatte, sie seien für mich nicht in Reichweite. Er war einer von uns, keiner von diesen oberschlauen Intellektuellen. Wenn er über Bücher sprach, dann nicht wie ein herablassender Besserwisser, sondern [72] wie einer, der Bücher wirklich liebt, und er gab mir das Gefühl, dass sie auch für mich zugänglich waren. Jedes Thema, das er anschnitt, führte gleich zum nächsten und immer weiter, unerschöpflich.
Irgendwann sagte er: »Schade, dass du nicht gern liest. Es gibt so wunderschöne Geschichten, die würden auch dich begeistern. Aber ich will dir damit nicht auf den Geist gehen, du wirst schon wissen, warum du Bücher nicht magst.«
»Warum findest du Lesen eigentlich so wichtig? Was bringt es mir, eine Geschichte von jemandem zu lesen, der lange vor mir gelebt hat, irgendwo zigtausend Kilometer entfernt? Ich schinde mich schon genug, warum sollte ich mir auch noch die Mühe machen zu lesen?«
»Du hast recht. Wenn es dir Mühe macht, solltest du es besser lassen.«
»Denkst du, ich wäre glücklicher, wenn ich lese? Meine Probleme kann ich durch Lesen nicht in den Griff bekommen, nur durch Arbeit.«
»Aber ob man glücklich oder unglücklich ist, hängt oft davon ab, welche Mittel einem zur Verfügung stehen, um sich mit den Dingen auseinanderzusetzen.«
»Ja schon, aber meine Probleme existieren nicht nur in meinem Kopf, sondern ganz praktisch.«
»Trotzdem lassen sich manche mit dem Kopf lösen. Ich will dich ja nicht bequatschen, aber Lesen bringt viel in uns in Bewegung: Phantasie, Gefühle, Empfindungen. Du öffnest deine Sinne gegenüber der Welt, du siehst und erkennst gewisse Dinge als Teil deiner selbst, Dinge, die du sonst vielleicht nie bemerkt hättest. Du entdeckst [73] die Seele der Dinge. Lesen heißt, dass dir plötzlich die richtigen Worte begegnen für das, was du selbst nie wirklich darstellen oder ausdrücken konntest. Wir lesen, was ein anderer geschrieben hat, und die Worte hallen wie ein Echo in uns wider, denn sie steckten bereits dort, in dem Urbild, wie Platon es nennt, an dem wir teilhaben, das wir in uns tragen. Es ist unerheblich, ob der Leser jung oder alt ist, ob er in der Großstadt oder fernab in einem kleinen Dorf lebt, ob das Erzählte in einer längst vergangenen Zeit, in der Gegenwart oder in einer imaginären Zukunft angesiedelt ist, denn Zeit ist relativ, und jede Epoche hat ihre moderne Seite. Außerdem ist Lesen einfach schön. Manchmal, wenn ich ein Buch ausgelesen habe, fühle ich mich rundum satt und zufrieden, ich empfinde ein körperliches
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