Zeit für mich und Zeit für dich
Wohlgefühl.«
Danach hörten wir noch ein bisschen Musik, sprachen über dies und das, und schließlich ging ich nach Hause. Hinterher fand ich Roberto ein bisschen weniger sympathisch, irgendwas an ihm bereitete mir Unbehagen, aber trotzdem zog es mich weiter zu ihm hin.
Abends besuchte ich ihn jetzt öfter. Immer erzählte er mir von Büchern, Filmen und Musik, und schließlich ließ mein Unbehagen nach. Er war wirklich wie ein großer Bruder, aber einer, den ich mir selbst ausgesucht hatte.
Nach einem Monat fragte ich ihn, ob er mir vielleicht ein Buch leihen würde.
»Okay, wenn du es zurückgibst. Eigentlich tu ich das sonst nicht, aber für dich mache ich eine Ausnahme. Wir müssen unbedingt das richtige aussuchen, denn wenn es dir nicht gefällt, liest du vielleicht nie wieder eins.«
[74] Wir gingen zum Bücherregal, und ich sah mir die Titel an. Mein Blick fiel auf Reise ans Ende der Nacht, das Buch, das Jim Morrison über den Dächern von Venice Beach gelesen hatte, und ich wollte damit anfangen. Doch Roberto meinte, damit solle ich lieber noch etwas warten, für den Anfang sei es ein bisschen happig.
»Das ist wie mit bitterem Kaffee, wenn man immer nur gesüßten Kaffee getrunken hat: Es braucht Zeit, um ihn schätzen zu lernen.«
Ich vertraute seinem Urteil.
Auch meine zweite Wahl fand er gewagt. Er lächelte und sagte: »Das ist noch schwieriger, aber ich bin froh, du scheinst eine gute Nase für Bücher zu haben. Die wird dir helfen, wenn du später in die Bibliothek gehst und nicht weißt, welches Buch du ausleihen sollst.«
Es hatte aber gar nichts mit meiner guten Nase zu tun: Ulysses von James Joyce hatte ich nur ausgesucht, weil wir die Odyssee in der Schule durchgenommen hatten und ich so nicht ganz bei null anfangen müsste, so meine Überlegung. Schließlich bat ich Roberto, ein Buch für mich auszusuchen. Er wählte Unterwegs von Jack Kerouac.
Als ich nach Hause gehen wollte, sagte er plötzlich: »Ich hab’s mir überlegt, ich werd’s dir doch nicht leihen…«
»Was? Ah… entschuldige, nichts für ungut…«
»Ich schenk es dir. Und dazu einen Bleistift zum Unterstreichen, wenn dir was besonders gefällt.«
Mit Buch und Bleistift in der Hand ging ich nach Hause. Ich legte mich ins Bett und begann meine [75] allererste Reise durch die Seiten eines Buches. Sein Titel drückte perfekt aus, was gerade für mich selbst begann. In zwei Tagen hatte ich es ausgelesen. Als ich Roberto wiedersah, sagte ich: »Das ist kein Buch. Das ist Leben.«
Er lächelte.
»Leihst du mir noch eins?«
»Ich kaufe dir eins. Du wirst sehen, wenn du die Bücher ausgelesen hast, wirst du sie behalten wollen, und es wird dir schwerfallen, sie jemandem zu leihen. Außerdem kannst du dann Dinge darin unterstreichen.«
Er kaufte mir Traumpfade von Bruce Chatwin.
Auch das verschlang ich.
Bald wurde das Lesen zu einer Droge. Ich hörte gar nicht mehr auf zu lesen, manche Bücher las ich in einer einzigen Nacht. Manchmal gefiel mir eine Geschichte so sehr, dass ich mich zwang, langsamer zu lesen, nur bis zu einer bestimmten Seite, weil ich nicht wollte, dass es so bald zu Ende war.
Nach Kerouac und Chatwin las ich Huxley. Zu meinen ersten Büchern gehörten außerdem: In den Staub geschrieben von John Fante, alle Bücher von Charles Bukowski, Moby Dick von Herman Melville, Ivanhoe von Walter Scott, Junger Mond von Cesare Pavese, Die Tatarenwüste von Dino Buzzati, Fiesta von Ernest Hemingway, Die Erziehung des Herzens von Gustave Flaubert, Der Prozess von Franz Kafka, Wahlverwandtschaften und Die Leiden des jungen Werther von Johann Wolfgang Goethe, Die Schatzinsel von Robert Louis Stevenson, Kaltblütig von Truman Capote, Das Bildnis [76] des Dorian Gray von Oscar Wilde, Ansichten eines Clowns von Heinrich Böll, Die unsichtbaren Städte von Italo Calvino, Lutherbriefe von Pier Paolo Pasolini. Die Romane von Fjodor Dostojewski nahmen mich regelrecht gefangen. Sie hatten etwas Reales, das mich nicht losließ. Die Treppenhäuser, die Wirtschaften, die Küchen: Ich nahm die Gerüche wahr, ich fror bei den Passagen, die im Schnee spielten, mir wurde warm, wenn einer der Charaktere seine Hände vor einen Ofen hielt.
Diejenigen unter meinen Freunden, die noch zur Schule gingen, lernten den ganzen Tag und hatten keine Lust, auch noch in ihrer Freizeit die Nase in ein Buch zu stecken. Oft interessierte sie gar nicht, was sie lernten, und sobald die Prüfungen vorbei waren, vergaßen sie alles wieder.
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