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Zeit für mich und Zeit für dich

Zeit für mich und Zeit für dich

Titel: Zeit für mich und Zeit für dich Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Fabio Volo
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den Menschen verloren, den ich am meisten auf der Welt liebte, und seine Bücher zu lesen oder seine Musik zu hören gab mir das Gefühl, ihm nahe zu sein. Ich begegnete ihm auf den Seiten dieser Bücher. Er hatte sie vor mir besucht, das wusste ich, also suchte ich dort nach Spuren von ihm, seien sie auch noch so klein. Er hatte in Schuld und Sühne neben Raskolnikow in einer Spelunke gesessen, hatte in Der Meister und Margarita mit Berlioz Narzan getrunken. Vor mir hatte schon mein Vater den Duft von Catherines Haut in Sturmhöhe eingeatmet, hatte in Der Zauberberg den Unterhaltungen zwischen Castorp und Settembrini gelauscht. Manchmal, wenn ich die Beschreibungen von Gegenständen oder Situationen las, stellte ich mir vor, in einem Aschenbecher in einem Wirtshaus lägen seine Zigarettenstummel, im Sand eines Strandes wären seine Fußspuren zu sehen oder er säße am Steuer eines vorbeifahrenden Wagens. Das klingt verrückt, ich weiß, aber mir das vorzustellen tröstete mich.«

[80]  Ganz unten
    Wer mit fünfzehn schon arbeiten muss, der ist echt angeschmiert. Meine Freunde trafen sich jeden Nachmittag im Park, und ich konnte nur zu ihnen stoßen, wenn mein Vater mich mal früher gehen ließ. Manchmal kamen sie in der Bar vorbei, um hallo zu sagen, einen Kakao zu trinken und Chips oder ein Stück Kuchen zu essen… je nachdem, was sie geraucht hatten. Ich war schon immer anders gewesen als sie, eher ein Einzelgänger, vielleicht weil ich der Einzige war, der arbeitete.
    Später, so mit achtzehn, trafen sich die anderen auch nicht mehr im Park. Einige fingen nach dem Abschluss ebenfalls an zu arbeiten, manche waren bereits verlobt, und ein paar zogen in eine andere Stadt, um dort zu studieren. So verlor ich damals viele Freunde aus den Augen. Außer Roberto, aber das war sowieso was anderes, der war ja schon erwachsen. Leute meines Alters, meine ich. Ich war achtzehn und ziemlich einsam.
    In einem Haus in der Nähe befand sich das Büro eines Unternehmensberaters. Die zehn Leute, die dort arbeiteten, bestellten oft Kaffee oder Tee und Croissants. Ich brachte sie ihnen gern, so kam ich mal raus und konnte auf dem Rückweg ein bisschen trödeln. Eines Morgens war eine Neue da, Lucia, die Tochter des Chefs. [81]  Es war ihr erster Arbeitstag. Sie lächelte mich an, und als ich ihre Zähne sah, dachte ich: ›Sind die nur zum Bestaunen da, oder kann sie damit auch kauen?‹ Ihre Zähne waren einfach perfekt, genauso wie die Lippen, Augen und Haare, der Hals, die Hände… Wie sie gekleidet war, wie sie atmete, wie… Von da an hoffte ich ständig auf Bestellungen. Und wenn dann eine eintraf, ging ich nicht wie früher einfach los, sondern kämmte mir erst noch mal im Bad die Haare und zog die Schürze aus.
    Lucia war nicht entgangen, dass sie mir gefiel. Ich hätte sie gerne angesprochen, aber mir fehlte der Mut. Also schrieb ich ihr eines Tages eine Nachricht auf die Papierserviette in der Tüte mit ihrem Croissant: »Jedes Mal, wenn ich dich sehe, geht die Rechnung nicht auf. Kannst du mir helfen?«
    Den Rest des Tages machte ich mir Vorwürfe, wie idiotisch es gewesen sei, ihr diese bescheuerte Nachricht zu schreiben. Aber abends, als ich gerade dabei war, den Boden zu wischen, klopfte sie an die Scheibe, hielt die Serviette mit meiner Nachricht dagegen und lächelte mich an. Von nun an brachte ich ihr jeden Morgen das Frühstück ins Büro. Abends kam sie oft auf dem Heimweg auf einen Sprung in der Bar vorbei. Blöd nur, dass das immer ausgerechnet in der halben Stunde war, in der ich den Boden zu wischen hatte. Ich schämte mich, zumal meine Hände vom Auswringen des Putzlappens immer ganz rot wurden und ich sie irgendwie zu verstecken versuchte, wenn wir uns unterhielten.
    Immer habe ich mich für meine Hände geschämt. Ich [82]  hätte mit meinem Vater darüber reden können, aber der hätte bestimmt bloß mit einer seiner üblichen Phrasen geantwortet: »Wer arbeitet, braucht sich nicht dafür zu schämen. Schämen musst du dich nur, wenn du jemanden schlecht behandelst«, oder: »Wer arbeitet, macht sich nie die Hände schmutzig…« Deshalb schwieg ich lieber und wischte weiter den Boden, und wenn sie vorbeikam, zog ich schnell die Schürze aus und ging zu ihr nach draußen. Sie schien es gar nicht zu stören, mich mit dem Putzlappen zu sehen. Nur mir machte es was aus.
    An einem Freitag fragte ich sie schließlich, ob sie Lust hätte, am Sonntagnachmittag mit mir ins Kino zu gehen. Sie sagte ja und gab

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