Zeit für mich und Zeit für dich
Lächeln auf den Lippen. Das Gefühl von Freiheit, das er ausstrahlte, war für mich noch ein Traum: allein leben und nur das tun, wonach einem der Sinn steht. Für mich verkörperte er die Welt außerhalb meiner Familie, und die faszinierte mich.
Eines Tages kam er in die Bar, aber statt wie sonst am Tresen einen Kaffee zu trinken und gleich wieder zu gehen, setzte er sich an einen Tisch.
»Ich hab mich ausgesperrt. Jetzt warte ich auf einen Freund, der einen Zweitschlüssel hat. Ich dachte, ich hätte den Schlüssel eingesteckt, aber in dem Moment, als die Tür ins Schloss fiel, sah ich ihn vor meinem geistigen Auge noch auf dem Küchentisch liegen. Ärgerlich.«
»Möchtest du was trinken?«
»Ich nehm ein Bier, danke.«
Einerseits tat es mir leid für ihn, andererseits fand ich es toll, ihn zu sehen und ein bisschen mit ihm plaudern zu können. Hoffentlich ließ sein Freund sich Zeit.
»Darf ich mich zu dir setzen?«
[68] »Klar doch… Arbeitest du jeden Tag hier?«
»Ja, außer sonntags.«
»Und gefällt dir die Arbeit?«
»Ja, schon, ich kann mich nicht beklagen… immerhin habe ich einen Job. Wir haben schon auch unsere Schwierigkeiten, aber wer hat die nicht.«
»Du redest ja schon wie ein Alter… Gehst du nicht mehr zur Schule?«
»Nein, ich bin nach der Achten abgegangen, vor nicht ganz einem Jahr.«
»Liest du gern?«
»Nicht besonders. Ich kenne mich nicht aus, und außerdem arbeite ich jeden Tag und hab nicht viel Zeit. Wie das halt so ist.«
»Alle sagen immer, sie hätten zu wenig Zeit. Was machst du denn abends, nach der Arbeit?«
»Da schau ich zusammen mit meinen Eltern fern, oder ich geh in mein Zimmer und schau allein… Ich weiß, was du sagen willst: Wenn ich Zeit zum Fernsehen habe, hätte ich auch Zeit zu lesen. Du hast recht, aber wenn ich den ganzen Tag gearbeitet hab, guck ich lieber fern, dann kann ich besser abschalten und muss nicht nachdenken.«
»Das verstehe ich. Und was für Musik hörst du so?«
»Vasco Rossi find ich gut. Du auch?«
»Ja. Ich habe jede Menge Platten zu Hause. Wenn du magst, kann ich dir mal welche vorspielen, dann entdeckst du vielleicht noch andere Musik, die dir gefällt.«
»Zu welchem Verein hältst du?«
»Zu keinem. Ich interessiere mich nicht für Fußball. [69] Als Kind war ich Milan-Fan, aber nur, weil mein Vater auch einer war.«
»Ich bin auch Milan-Fan. Letzten Sonntag haben wir verloren. Eigentlich hätten wir gewinnen müssen, aber dann kam dieses blöde Tor zwei Minuten vor Schluss…«
Von Büchern und Musik verstand ich nicht viel, aber beim Thema Fußball konnte ich jeden beeindrucken. Ich wusste alle Ergebnisse, nicht nur aus der laufenden Saison, sondern auch aus den vergangenen, alle Aufstellungen, alle Torschützen. Manchmal wusste ich sogar noch, in welcher Minute ein Tor gefallen war. Die Gäste in der Bar sprachen über nichts anderes, vor allem montags. Dass Roberto sich nicht für Fußball interessierte, brachte mich in Verlegenheit, ich wusste nicht, worüber ich sonst sprechen sollte. Ich war verunsichert, vielleicht weil er mehr als doppelt so alt war, vielleicht weil ich ihn unbedingt beeindrucken wollte. Auf jeden Fall fühlte ich mich irgendwie unter Leistungsdruck.
Aber dann kam sein Freund mit den Schlüsseln und half mir aus der Patsche. Roberto trank sein Bier aus und stand auf.
»Was macht das?«
»Nichts, geht auf mich.«
»Oh, danke… Heute Abend bin ich allein zu Haus. Wenn du Lust hast, komm doch nach dem Essen vorbei, dann schauen wir mal, was für Musik dir sonst noch gefällt.«
»Echt?«
»Na klar.«
Am liebsten wäre ich sofort mitgegangen, aber ich aß [70] noch zu Hause zu Abend und sagte bei Tisch, dass ich später zu dem neuen Nachbarn rübergehen wollte, um ein wenig Musik zu hören. Meine Eltern hatten nichts dagegen, denn Roberto war ein netter Typ, den auch sie mochten. Er hatte eine besondere Ausstrahlung, alle fühlten sich zu ihm hingezogen.
Nach dem Abendessen klopfte ich an seine Tür.
»Komm ruhig rein.«
Volle Aschenbecher, Plattenhüllen auf dem Boden, Hosen und Hemden überall verstreut. Es wurde ein unvergesslicher Abend. Ich hing an seinen Lippen. Was er sagte, vertrat er mit Leidenschaft, und wer ihm zuhörte, verspürte unweigerlich den Wunsch, Teil seiner Welt zu werden. Er war der perfekte große Bruder, der, den ich nie hatte. Er wusste jede Menge faszinierender Dinge und wollte sie mir sogar beibringen.
»Willst du ein Bier?«
Ich mochte kein Bier,
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