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Zeit für mich und Zeit für dich

Zeit für mich und Zeit für dich

Titel: Zeit für mich und Zeit für dich Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Fabio Volo
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suchen und der Bar den Rücken zu kehren.
    Einen Sinn im Leben sah ich nach wie vor nicht, doch ich hatte begriffen, dass das Leben selbst meine einzige Chance war, einen zu finden.
    Ich verbrachte Stunden damit, darüber nachzudenken, wie es weitergehen sollte. Ich spürte, dass ich handeln musste, dass aus der Lektüre meiner geliebten Bücher Taten werden mussten, mutige Schritte. Dann wieder hielt ich mich für anmaßend: Wer war ich denn, dass ich danach strebte, anders zu leben als meine Familie oder meine Freunde? Vielleicht war ich ja einfach nur nie zufrieden, ein verwöhnter Bengel.
    Gestalten kamen mir in den Sinn, von denen ich gelesen hatte. Goldmund, zum Beispiel: Auch sein Leben war irgendwie vorgezeichnet gewesen, und doch hatte er ihm den Rücken gekehrt, war seiner Natur gefolgt und davongelaufen.
    Oder der Odysseus in Dantes Inferno, der allen persönlichen Bindungen zum Trotz seinem Drang folgt, die Welt und die Menschen kennenzulernen. Ich musste an Kapitän Ahab aus Moby Dick denken, dessen Beispiel mich ermutigte, immer weiterzugehen und nie aufzugeben. Oder an den Baron in den Bäumen, der sich wie ich in dem Leben, das er führte, nicht mehr [102]  wiedererkannte und deshalb nur noch in der Baumkrone lebte. Einige dieser Bücher las ich nun auf der Suche nach Antworten auf all meine Fragen erneut.
    Lesen ist faszinierend und schön, aber noch machtvoller ist meiner Meinung nach Wiederlesen. Wenn ich etwas ein zweites Mal lese, interessieren mich weniger die Handlungsstränge, die ich ja schon kenne, als vielmehr die Welten, die ich mir vorgestellt habe. Ich bin neugierig zu erfahren, ob diese Bilder noch einmal auf die gleiche Weise in mir erstehen und ob ich mich immer noch darin zu Hause fühle. Wenn du ein Buch liest, das dir gefällt, machen diese Seiten etwas mit dir; wenn du sie wiederliest, bist du es, der etwas mit ihnen macht.
    In Joseph Conrads Roman Die Schattenlinie hatte ich einen Satz unterstrichen, der nur für mich aufgeschrieben worden zu sein schien, wie ein Zeichen: »Man schließt die kleine Pforte der Kindheit hinter sich und tritt in einen verzauberten Garten ein, in dem selbst die Schatten verheißungsvoll glühen. Jede Wendung des Pfades hat ihren verführerischen Reiz.« Aus Zen und die Kunst, ein Motorrad zu warten habe ich gelernt, dass es auf der Welt nichts Revolutionäreres gibt, als das, was man tut, möglichst gut und richtig zu tun.
    Figuren, Sätze und Worte aus Büchern sind wie Brücken, über die man ans Ziel gelangt und die das alte Leben und das neue, das einen erwartet, miteinander verbinden.
    Eines Tages bot Carlo, ein Freund aus Kindertagen, mir einen Job bei seinem Onkel an, den er während seines Studiums selbst ab und zu gemacht hatte. Ironie des [103]  Schicksals: Der Job bestand darin, Schulden einzutreiben. Ich musste im Auftrag von Firmen Geld zurückfordern.
    Ich sagte zu, obwohl ich keine Ahnung hatte, wie ich das meinem Vater beibringen sollte. Ich ließ es zum Bruch kommen: Ohne ihm davon zu erzählen, erschien ich am nächsten Montag einfach nicht in der Bar. Meine Mutter musste Papa den Grund für meine Abwesenheit erklären.
    Ich habe mir das nie verziehen. Ich wusste zwar, dass er es nicht verstehen würde, aber ich hätte es ihm wenigstens sagen sollen. Unser Verhältnis änderte sich schlagartig. Von da an war ich für meinen Vater ein Verräter – genau wie ich befürchtet hatte.
    Morgens ging ich aus dem Haus und frühstückte in einer anderen Bar. Ich weiß noch wie gestern, wie ich am ersten Morgen aus dem Haus trat. Das Tor schlug hinter mir zu, und ich blieb kurz stehen. Ein klarer, entschiedener Knall, der mir eins für immer verschloss: die Möglichkeit der Rückkehr. Ich war jetzt raus.
    Es wehte ein lauer Wind, und diesen Wind empfand ich als sehr angenehm. Wie er mir übers Gesicht strich, ging es mir gleich besser, wenn auch noch lange nicht gut. Ich war ein Verräter, ein Egoist, ein Feigling, der sich heimlich aus dem Haus schlich. Ich hatte meiner Familie den Rücken gekehrt. Insbesondere meinem Vater. Der denn auch nicht versäumte, mir eines Tages zu stecken: »Du hast uns einfach im Stich gelassen.«
    Abends machte ich den Mund fast gar nicht mehr auf. Meine Mutter fragte nach dem neuen Job, aber mir war [104]  es peinlich, vor meinem Vater, der mittlerweile gar nicht mehr mit mir sprach, davon zu erzählen. Uns ging der Gesprächsstoff aus, erst die Sätze, dann die Worte, und schließlich war ich auch nicht

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