Zeit für mich und Zeit für dich
mehr bereit, mögliche Missverständnisse auszuräumen. Und so bewirkten falsche Vorstellungen und Überzeugungen, dass wir uns immer weiter auseinanderlebten. »Es ist nicht so, wie du denkst, vielleicht habe ich mich schlecht ausgedrückt…« – dieser einfache Satz hätte manchmal genügt, um alles wieder ein bisschen einzurenken, doch wir machten uns die Mühe nicht. Man sollte den Leuten verbieten, Schweigen zu interpretieren. Wir taten genau das und entfernten uns immer mehr voneinander.
Die Inkassofirma, bei der ich nun arbeitete, trieb Darlehen ein. Als ich am ersten Tag antrat, wollte ich eine Vorstellung davon bekommen, was ich zu tun hatte, und fragte sofort: »Soll ich hingehen und die Leute verprügeln?« Gott sei Dank lautete die Antwort: »Nein.« Aber es war trotzdem komisch, nach all den Jahren der Verschuldung ausgerechnet so einem Job nachzugehen.
Ich telefonierte den ganzen Tag mit Leuten, die unseren Auftraggebern Geld schuldeten, und versuchte herauszufinden, ob sie schlicht kein Geld hatten oder ob die Säumnis damit zusammenhing, dass bei der Zustellung der Ware etwas nicht geklappt hatte beziehungsweise diese fehlerhaft war – das waren die beliebtesten Vorwände, um die Zahlung so weit wie möglich hinauszuschieben. Solche Leute roch ich von weitem, ich kannte den Geruch von zu Hause, wer hätte sie besser verstehen können als ich?
[105] Wovor ich hatte fliehen wollen, erstand nun ständig neu vor mir. Meine Vergangenheit war da, ich war von meinen Geistern umgeben. Wenn ich von jemandem Geld einforderte, war mir jedes Mal, als stände mir mein Vater gegenüber.
Ich war nett zu den Leuten und versuchte ihnen zu helfen. Einmal klingelte ich an der Tür zu einer Souterrainwohnung, und es öffnete mir eine Frau, die dort allein mit der Tochter lebte. Sie ließen mich herein.
»Setzen Sie sich bitte. Möchten Sie einen Kaffee, ein Glas Wasser? Etwas anderes habe ich leider nicht.«
»Nein, danke.«
»Schauen Sie, ich wollte mir gerade selbst einen Kaffee machen, und wenn Sie möchten…«
»Also, wenn Sie sowieso einen machen wollten, dann gern. Danke.«
Sie brachte mir den Kaffee und fragte, wie viel Zucker ich wollte. Die Tochter saß still auf dem Sofa und schaute mich an. Sie war etwa fünfzehn, und ihr Gesicht war sehr hübsch, aber erloschen. Ich kannte diesen Gesichtsausdruck, ich hatte den gleichen, wenn die Männer in die Bar kamen, um unsere Sachen zu pfänden.
Armut ist beschämend, doch an diesem Tag schämte ich mich noch mehr als die beiden. Ich rührte in meinem Kaffee, während die Frau mir erklärte, dass sie das Geld abstottern werde, keine Sorge, sie seien ehrliche Leute, die Tochter habe einen Job in einer Pizzeria gefunden und arbeite dort jetzt an den Wochenenden, obwohl es nicht leicht gewesen sei, wegen ihres Alters. Ich schämte mich immer mehr, ich ekelte mich vor mir selbst und [106] fühlte mich schuldig. Wenn ich gekonnt hätte, hätte ich die beiden Frauen am liebsten mit zu mir nach Hause genommen. Es tat mir weh, das mit anzuhören.
Während ich über die Zahl der Raten nachsann, erstarrte ich plötzlich. Ich riss den Blick von einem feuchten Fleck, der ganz so aussah wie der in unserer Küche, blieb eine Weile stumm und sagte dann: »Signora, Sie haben keine Schulden mehr. Kümmern Sie sich nicht weiter darum, ich komme nicht wieder. Niemand wird mehr wiederkommen.«
»Aber… wie ist das möglich?«
»Machen Sie sich keine Sorgen.«
Die Frau konnte es nicht glauben. Viermal fragte sie nach, um sicherzugehen, dass sie richtig verstanden hatte. Ich versicherte ihr, dass alles geregelt sei und sie sich nicht mehr zu sorgen brauche. Da fing sie an, sich bei mir zu bedanken, nahm mit Tränen in den Augen meine Hände und sagte zur Tochter: »Bedank dich bei dem Herrn, bedank dich bei dem Herrn.« Und zu mir gewandt, fügte sie hinzu: »Sie sind ein Engel.«
Im Büro verbuchte ich den Vorgang als Verlust. Ich schrieb einen kurzen Bericht für die Bank, in dem ich erklärte, dass die Schuldner unauffindbar seien und ich keine Möglichkeit sähe, das Geld wiederzubeschaffen. Für eine Bank fällt so was kaum ins Gewicht; so geringe Summen gleichen sie problemlos aus und können es sogar noch von der Steuer absetzen.
Wenn’s nach mir gegangen wäre, hätte ich das gern häufiger getan, aber ich konnte nicht immer, wie ich wollte. Wenn sich die Möglichkeit bot, schauten mich die Leute [107] mit einer Dankbarkeit in den Augen an, die mir Kraft
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