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Zeit für mich und Zeit für dich

Zeit für mich und Zeit für dich

Titel: Zeit für mich und Zeit für dich Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Fabio Volo
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Geld hätte unsere Lage nicht gebessert. Mit einem Freund zusammen überlegte ich, T-Shirts mit lustigen Aufschriften oder witzigen Zeichnungen herzustellen. Aber dann verwarfen wir die Idee wieder, uns fehlte das Startkapital.
    Die Probleme meiner Familie rührten bestimmt auch daher, dass mein Vater kein Händchen fürs Geschäft hatte. Er versuchte nie, den Leuten etwas schmackhaft zu machen und zu verkaufen. In der Bar gab es dafür auch nicht viel Gelegenheit, doch ein geborener Verkäufer findet immer einen Weg, wie er seine Ware an den Mann bringt. Der Metzger bei mir um die Ecke zum Beispiel hat eine rötliche Thekenbeleuchtung, damit das Fleisch eine intensivere Farbe bekommt. Hört sich bescheuert an, funktioniert aber. Manchmal greift er auch noch tiefer in die Trickkiste: Dem Kunden, der ein bestimmtes Stück Fleisch will, sagt er: »Aber nein, dieses Stück möchte ich Ihnen wirklich nicht verkaufen, nehmen Sie doch lieber das hier. Das andere da kann ich Ihnen unmöglich [99]  geben.« Und schwups! hat er einen weiteren Kunden gewonnen, weil er ein besonderes Vertrauensverhältnis hergestellt hat. Gut möglich, dass er dem nächsten dann mit den gleichen Worten ausgerechnet das Stück Fleisch anbietet, das er vorher partout nicht hat herausgeben wollen. Und trotzdem denken beide Kunden: ›Mein Metzger ist toll, der legt für mich immer das beste Stück beiseite.‹
    Fürs Verkaufen braucht man Talent, egal um welche Ware es geht. Es gibt Leute, die drehen einem alles an. Mein Vater dagegen ist der Anstand in Person. Er ist regelrecht besessen davon, den Anstand zu wahren, wie jemand, der sich unbedingte Treue abfordert, auch wenn dabei die Liebe erstickt.
    Und nicht nur davon ist er besessen, sondern auch vom »Rücksichtnehmen«, wie er und meine Mutter es nennen. Obwohl wir bis zum Hals in Schulden steckten, ließen sie zum Beispiel viele Gäste in der Bar anschreiben. Anstatt jeden Tag zu bezahlen, zahlten manche monatelang nicht und häuften hohe Zechen an.
    »Mama, wir müssen dem mal sagen, dass er endlich bezahlen soll…«
    Aber meine Eltern brachten das nicht fertig, obwohl sie das Geld gebraucht hätten. Herr und Frau Wirmöchtennichtstören, Wirmöchtennichtzurlastfallen.
    Als Kind sagten sie zu mir, ich solle die Stühle nicht so rücken, damit die Nachbarn aus der Wohnung unten sich ja nicht über uns beschwerten. Umgekehrt beschwerten meine Eltern sich aber bestimmt nicht bei der Familie über uns, die keineswegs Rücksicht auf uns nahm. [100]  Und der Fernseher musste immer leise gestellt sein, besonders im Sommer, wenn die Fenster offen standen.
    Eines Abends schaute ich mir den Zeichentrickfilm Alice im Wunderland an. An einer Stelle wächst Alice plötzlich so sehr, dass ihr Kopf aus dem Dach des Hauses und ihre Arme zu den Fenstern herausschauen. Das war das perfekte Bild für meine Lage. Mein Zuhause war zu klein für mich geworden, ich spürte, dass es nicht mehr passte. Ich musste fortgehen, dem weißen Kaninchen folgen wie Alice. Ich hatte satt, was ich sah, hörte und tat, genauso wie die Arbeit und die ständigen Erniedrigungen. Ich war’s leid, immer dieselben Sätze zu hören, dieselben Versprechen, dass es bald besser würde – das alles stand mir bis hier. Ich wollte nicht mehr in mein Zimmer flüchten wie in einen Schlupfwinkel, aus dem ich rufen konnte: »Ich bin ganz brav, ich störe auch nicht und verlange nichts, aber bitte lasst mich dann auch in Ruhe.« Ich hatte dieses Bett mit seinem Resopalrahmen und den Aufklebern, die ich Jahre zuvor draufgeklebt hatte, satt; genauso wie den kaputten Rollladen, die abgeplatzte Fliese im Bad, die Klebestreifen und Schnüre. Ich hasste dieses Flickenleben. Ich wollte nicht länger an die Decke starren, ohne Antworten zu finden, einen Ausweg, eine Alternative. Hatte meine Ohnmacht satt. Meine Unzufriedenheit.
    Mir war, als würde ich ersticken, ich wollte mich befreien. Mich, meine Mutter und meinen Vater. Ich wünschte mir, dass das Schicksal es gut mit mir meinte oder dass ich zumindest etwas aus mir machen konnte. Als Kind hatte ich immer lachen müssen, wenn mein Vater am Tisch [101]  einnickte, doch nun gruselte es mich bei dem Anblick, weil ich begriff, dass so auch meine Zukunft aussähe. Ich erschrak bei der Vorstellung, genauso zu leben wie er, hatte Angst vor diesen immergleichen Tagen. Mein Leben kam mir vor wie ein nasser Anzug. Ich beschloss das Risiko einzugehen, den Sprung zu wagen, mir eine andere Arbeit zu

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