Zeit für mich und Zeit für dich
kommt von dem Wort ›Fantasie‹, denn es braucht viel Einbildungskraft, um bei diesem komischen Gebräu, das aus Nebenprodukten aus der Marmeladen- und Käseerzeugung gewonnen wird, Orange rauszuschmecken… Nein, Scherz, es kommt von ›fantastisch‹.«
Der Unbekannte hieß Enrico. Wir setzten unsere Unterhaltung fort, aßen zusammen und schlossen Freundschaft. Er wusste über alles Bescheid. Seine Kenntnisse reichten von Weltpolitik, Architektur, Kunst und Literatur bis hin zu der Erklärung, weshalb Karotten orangefarben sind. Das meiste, worüber er sprach, war für mich Neuland. Zum Beispiel wusste ich nicht, dass Möhren von Natur aus ganz anders aussehen und ihre heutige Färbung vom Menschen angezüchtet worden war. Die Holländer waren es, die der Möhre zu Ehren der Oranier-Dynastie ihre orange Farbe verpasst haben.
Ich weiß noch, dass ich Enrico am Tag unserer ersten Begegnung fragte: »Du behauptest also, dass in dieser Orangenlimo gar keine Orange drin ist?«
»Damit ein Fruchtsaft sich ›Saft‹ nennen darf, muss [111] er mindestens zwölf Prozent Fruchtgehalt haben, aber Getränke, auf denen steht: ›Mit dem und dem Geschmack‹, haben häufig überhaupt keinen Fruchtanteil. Der Geschmack wird im Labor erzeugt, durch Kombination von Aromamolekülen. Wenn du auf einen Schwamm Zitrus- und Bittermandelaroma träufelst und daran riechst, wirst du denken, du hättest einen Panettone vor dir. Wenn du an zwei Stäbchen mit dem Aroma von Kartoffeln und Fritteuse riechst, wirst du denken, du hast zwei Pommes frites vor dir. Geräucherte Lebensmittel wie Würstchen bekommt man durch Zugabe des Geschmacks ›Rauch‹. Es gibt sogar ein Aroma, das nach Fuß riecht.«
»Nach Fuß?«
»Aber ja: Buttersäure! Findet sich in reifem Käse ebenso wie in Erbrochenem. In den Chemielabors sagen sie dazu nur ›Fußaroma‹.«
»Bah, ist das eklig!«
»So betrachtet, ist es eklig, ich weiß, aber Fußgeschmack wird sogar bei der Herstellung von Vanille-, Erdbeer- und Sahnearoma verwendet. Bei vielen Dingen, die du isst oder trinkst.«
Wir trainierten gemeinsam im Fitnessstudio, auch wenn wir beide keine Sportskanonen waren. Er hatte es nicht so mit den Gewichten und lief dafür mehr auf dem Laufband. Die Gespräche mit ihm waren immer interessant, denn er las viel. Er hatte eine unbändige Leidenschaft für die Oper. Wenn ich ihn besuchte, lief stets eine CD in voller Lautstärke. Beim Kochen ging er mit dem Kochlöffel in der Hand zur Anlage, drehte voll auf und brüllte mir zu: »Hör mal, hör mal die Arie…«
[112] Quanto è bella, quanto è cara!
Più la vedo, e più mi piace…
ma in quel cor non son capace
lieve affetto ad inspirar.
Essa legge, studia, impara…
non vi ha cosa ad essa ignota;
io son sempre un idiota,
io non so che sospirar.
Chi la mente mi rischiara?
Chi m’insegna a farmi amar?
»Was ist das?«, fragte ich, voll der Ahnungslose.
» L’elisir d’amore von Donizetti.«
Ich unterhielt mich gern mit Enrico. Auch er fühlte sich wohl in meiner Gesellschaft, weshalb wir uns oft sahen. Auf seine witzig-ironische Art gab er mir Tipps, wie ich mich gegenüber Frauen verhalten sollte: »Bevor du sie ausziehst, musst du der Frau den Schmuck abnehmen: Ketten, Ohrringe, Armbänder und Fingerringe. Ein bloßes Ohrläppchen küsst sich schöner, und außerdem kommt man nicht in die Verlegenheit, über Erinnerungen aus ihrer Vergangenheit zu stolpern. Vor allem, wenn es irgendein Ex war, von dem sie ihn geschenkt bekommen hat. Perlenketten kannst du ihr übrigens anlassen. Aber das dürfte bei den Frauen, mit denen du dich triffst, kaum das Problem sein… Das Höschen ziehst du besser auch nicht aus, das mögen sie, kannst du mir glauben. Du schiebst es einfach beiseite. Und wenn du sie da unten küsst, küss sie erst eine Weile aufs Höschen. Lass sie die Wärme deines Atems spüren. Wenn die Frau es mit [113] dir genauso macht und dich erst auf den Slip küsst oder wenn sie Strümpfe und Schuhe nicht auszieht, na, dann ist der Abend geritzt. Das größte Geheimnis aber lautet: Berühr sie wie eine Frau und küss sie wie ein Mann.«
»Wie bitte?«
»Wenn du sie berührst, sei zärtlich und tu so, als wärst du eine Frau, aber wenn du sie küsst, dann richtig, wie ein echter Kerl.«
Eines Tages, als wir nach dem Training im Fitnessstudio einen Salat aßen, fragte er unvermittelt: »Warum fängst du nicht bei mir an?«
Er besaß eine Werbeagentur.
»Das geht nicht. Ich hab
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