Zeit für mich und Zeit für dich
aus einer Provinzstadt kam, machte es nicht leichter. Wenn man aus einer Kleinstadt in die Großstadt kommt, hat man Minderwertigkeitskomplexe, man schämt sich ein bisschen wegen seiner Herkunft. Zu Hause kann man [120] vielleicht der Platzhirsch werden – ein Platzhirsch im Zoogehege. Ich hatte dieses Gehege verlassen, um mich mit anderen Tieren in freier Wildbahn zu messen. Sofort war ich zusammengeschrumpft, und selbst die alltäglichsten Dinge wurden zur Schlacht, zum Kampf.
Haben sie dich ein bisschen näher kennengelernt, fangen die Städter an, dich wegen deiner Aussprache aufzuziehen. Manche Wörter musst du im Hirn neu einstellen, die Vokale offener oder geschlossener aussprechen. Alles wird bewertet, auch wie du dich kleidest. Du wirst behandelt wie einer, der nicht dazugehört, und absurderweise ist das dann auch in deiner Kleinstadt so: Du gehörst nicht mehr dazu.
Eine Zeitlang lebte ich in einer Art Zwischenwelt. Unter der Woche, in Mailand, machten sie sich über meine Aussprache lustig, doch wenn ich am Wochenende nach Hause fuhr, meinten die Leute, mit denen ich mich traf, ich würde schon wie ein Mailänder reden. Ich hatte keine Heimat mehr. In Mailand war ich ein Provinzler. Wenn ich in die Provinz zurückfuhr, war ich einer aus der Großstadt. Wenn ich damals etwas sagen wollte, musste ich mir erst bewusst machen, wo ich war, um zu wissen, ob ich die Vokale nun offener oder geschlossener aussprechen sollte.
Es wirkt komisch, aber wenn du aus deiner Stadt weggehst, nehmen manche Leute das persönlich, wie eine Zurückweisung, als hättest du sie verlassen oder respektlos behandelt, sie fühlen sich gekränkt, beleidigt, vernachlässigt. Als wärst du gegangen, weil du sie doof findest und dir als was Besseres vorkommst. Sie fühlen sich [121] zurückgestoßen und spielen die Beleidigten: »Ach wir, weißt du, wir sind doch bloß Provinzler, nicht wie du, du lebst ja in Mailand…«
Das Alleinsein war für mich kein Problem, ich war’s gewohnt. So fuhr ich am Wochenende seltener nach Hause, man verpasst ja doch nicht viel. In der Stadt, aus der ich komme, verläuft alles in festen Bahnen, immer dieselben Gespräche in derselben Bar. Als ich nicht mehr auftauchte, waren meine Freunde überzeugt, ich würde auf sie runterschauen und mich wichtigmachen, meine Heimatstadt sei mir wohl zu eng. Was ja irgendwie auch stimmte – ein unlösbarer Zwiespalt.
Inzwischen gehe ich davon aus, dass deine Art zu denken sich ändert, wenn du mit mehr Reizen lebst, unter andersartigen Leuten, in einer neuen Umgebung. Komisch, aber in der Großstadt wirst du daran gemessen, was du machst, in der Provinz daran, wovon du träumst.
Mir wurde bewusst, dass meine alten Freunde nicht daran interessiert waren, die Welt zu erkunden. Leute aus einer anderen Clique oder einer anderen Stadt interessierten sie schon nicht mehr: »Ist nicht von hier, gehört nicht zu uns« – eine Weltsicht, bei der jeder Unbekannte automatisch ein Gegner ist. Dazu kam noch die Formel: »Ich schaue mir die Welt nicht an, weil die Welt mich nicht anschaut.«
Sie wollten sich einfach nicht ändern, und weil sie an einem erweiterten Blick auf die Wirklichkeit nicht interessiert waren, sagten sie, dass sie sich langweilten; das genügte ihnen. In der Langeweile hatten sie es sich bequem gemacht.
[122] Jedes Gefühl schien ohne Bedeutung, leer, Selbstzweck. Diese Art zu leben hatte etwas, das alles verflachte und nivellierte, das die Nuancen tötete und die Gewissheiten und Überzeugungen bestärkte. Immer hatten meine alten Freunde mehr Antworten als Fragen.
Camus hat dazu was gesagt, das ich voll hätte unterschreiben können: Wer um sich selbst kreist und immer dieselben Dinge sieht und tut, der verliert die Fähigkeit und die Möglichkeit, sein Hirn zu gebrauchen, so dass es sich langsam verschließt, sich verhärtet und schrumpft wie ein Muskel. Das wollte ich vermeiden.
Die Menschen, mit denen ich in Mailand zu tun hatte, machten sich zwar über mich lustig, doch sie waren mein Bezugspunkt geworden. Vor allem Tony. In der Agentur sagten alle, dass mal ein Startexter aus ihm werden würde. Mit zwanzig hatte er einen wichtigen Preis gewonnen, seitdem wurde er als Wunderkind gehandelt, und jeder in der Werbewelt kannte seinen Namen. Wenn ich mit ihm sprach, dann immer voller Respekt, obwohl er nur zwei Jahre älter war. Ich bewunderte ihn, er war sympathisch, offen, und er wirkte irgendwie international. Alle mochten ihn, ich
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