Zeit für mich und Zeit für dich
auch. Er hatte in London studiert und sprach gut Englisch. Ich dagegen hatte es nicht so mit den Sprachen, und wenn er mal wieder ein Model mit nach Hause brachte und sich auf Englisch mit ihr unterhielt, saß ich stumm dabei: Ich konnte nicht mal die wenigen Wörter anbringen, die ich gelernt hatte. Ich war eingschüchtert und wollte mich mit meiner falschen Aussprache nicht blamieren. Irgendwann schrieb ich mich deshalb für einen Sprachkurs ein und sah mir jeden Abend einen Film [123] in Originalsprache an. Anfangs verstand ich kein Wort. Fast ein Jahr lang verbot ich es mir, eine DVD auf Italienisch zu schauen. Danach sprach ich um einiges besser.
Tony war eine Nachteule und kam nicht vor elf Uhr vormittags ins Büro, manchmal auch noch später. Wenn ich abends einzuschlafen versuchte, hörte ich aus seinem Zimmer oft Musik und endlose Unterhaltungen mit seinen Freunden. Manchmal setzte ich mich dazu, hielt aber meist nicht lange durch und ging irgendwann schlafen.
Eine Weile war Tony mit einem wunderschönen Model zusammen. Sie kam aus Holland, und als sie mich das erste Mal ansprach, verfiel ich ihr mit Haut und Haaren. Sie war total in Tony verknallt, aber der machte sich nicht viel aus ihr. Ich hörte sie oft weinen, manchmal warf er sie nach einem Streit sogar aus der Wohnung. Ich hoffte, dass sie nicht wiederkäme, weil sie mir leidtat. Aber eigentlich hoffte ich jedes Mal, dass sie sein Zimmer verlassen und in meinem um politisches Asyl ersuchen würde. Was sie aber leider nie tat.
Ich lernte und arbeitete und gestand mir darüber hinaus nicht viele Freiheiten zu. Wenn ich nicht arbeitete und nicht lernte, versuchte ich so zu leben, wie ich gern gelebt hätte: wie die anderen. Weil ich mich für mein Leben noch immer schämte.
Ich schämte mich, wenn ich sonntagabends mit dem Essen nach Hause kam, das meine Mutter für mich gekocht hatte: Spaghettisoße, gekochtes Gemüse, Rouladen und dazu noch einheimische Salami, Taleggio- und Scamorza-Käse. Wenn ich allein in der Küche war, stopfte ich das Zeug schnell in den Kühlschrank, andernfalls [124] verbarg ich es in meiner Tasche im Zimmer, bis die Luft rein war. Tony und seine Freunde aßen chinesisch, brasilianisch, mexikanisch, indisch und schon damals Sushi.
Ich schämte mich auch, wenn meine Mutter allabendlich anrief und fragte, wie es mir ging; ich kam mir dabei vor wie ein Kind. Wenn Tony zu Hause war, ging ich manchmal gar nicht ran, oder aber ich behandelte sie von oben herab. Die Anrufe waren ein Ausdruck ihrer Liebe, doch ich wies sie zurück. Später, vor dem Einschlafen, dachte ich manchmal: ›Und wenn sie heute Nacht stirbt?‹ Am liebsten hätte ich sie dann angerufen, weil ich mich schuldig fühlte, aber so mitten in der Nacht schlief sie sicher schon. Bei ihren Anrufen versäumte sie es auch nie, mir zu sagen, ich solle die Schmutzwäsche mitbringen. Freitagabends brachte ich sie ihr, und tags darauf um die Mittagszeit lagen all meine Kleider bereits fix und fertig bereit. Wie sie das hinkriegte, habe ich nie herausgefunden, vielleicht verbrachte sie die Nacht ja damit, sie trockenzupusten. Was soll’s. Müttergeheimnisse.
Ich schaute mir genau an, welche Klamotten die jungen Städter trugen, und versuchte ihren Stil zu kopieren. Ich riss mir ein Bein aus, um ihnen ähnlich zu sein. Wegen meines geringen Selbstwertgefühls fühlte ich mich nicht gleichwertig, die anderen kamen mir besser und fähiger vor. Selbst die, die es in Wirklichkeit gar nicht waren. Ich begann, anderer Leute Leben zu führen, sah das Leben durch ihre Brille, dachte mit ihren Hirnen, benutzte ihre Worte.
Claudio war nicht blind und bestellte mich zu sich ins Büro.
[125] »Ich möchte dir einen Rat geben – ob du ihn annimmst, überlasse ich dir. Deine Stärke ist die Direktheit. Zwing dich nicht, jemand zu sein, der du nicht bist, kämpfe lieber darum, dass du der bleibst, der du bist. Du musst nichts suchen, du hast schon alles; trau dich, du musst dir nur deiner selbst bewusst werden. Glaub an dich, versuch dich ein bisschen höherzuschätzen. Du brauchst keine neue Sprache, lerne lieber, auf das zu hören, was du bereits in dir hast. Bewahr dir deine natürliche Spontaneität, das Selbstvertrauen kommt dann von allein. Denk dran: Leben ist die Kunst zu werden, was man schon ist.«
An der Tür schenkte er mir ein Buch: Sun Tzu, Die Kunst des Krieges.
Claudio hatte ins Schwarze getroffen. Mit der Zeit begriff ich, dass er mir wichtige Dinge
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