Zeit für mich und Zeit für dich
beibringen wollte, dass er mich unter Druck setzte, um mich zu testen, um meinen Widerstandsgeist herauszukitzeln, um mich zu motivieren, doch am Anfang spürte ich nur die Enttäuschung, nicht gut genug zu sein: Ich verstand nicht, dass es zur Ausbildung gehörte, wenn er mich runterputzte.
Als ich an diesem Abend nach Hause kam, stellte ich mich an den Herd, um mir schnell was zu kochen, zu essen und dann ins Bett zu gehen. Ich wollte Claudios Worte beherzigen und alles anders machen. Da klingelte es an der Tür. Es war sie, Tonys Freundin.
»Tony ist nicht da.«
»Ich weiß. Ich warte auf ihn, er hat gesagt, er kommt in einer halben Stunde.«
Sie folgte mir in die Küche.
[126] »Willst du was mitessen?«
»Nein, ich hab keinen Hunger.«
Wir unterhielten uns über dies und das, dann holte sie ein bisschen Koks raus und fragte mich, ob ich was abhaben wolle.
»Nein, danke.«
Hör auf damit, hätte ich am liebsten zu ihr gesagt, aber sie hätte eh nicht auf mich gehört. Und ich wollte ja auch nicht wie ein Oberlehrer klingen. Als ich in Tonys Freundeskreis schon mal gewagt hatte zu sagen: »Müssen wir uns eigentlich immer zudröhnen, geht’s nicht auch mal ohne?«, hatte einer Tony nur gefragt: »Was ist denn das für einer, dein Papi? Oder der Pfarrer?« Dabei hatte ich gar nichts gegen Drogen, nur gegen die Unfähigkeit, ohne sie auszukommen.
Tony kam zwei Stunden später. In der Zwischenzeit hatten Simi und ich uns über alles Mögliche unterhalten. Sie wusste, dass es ein Fehler war, mit ihm zusammenzubleiben, doch sie war eben in ihn verliebt. Obwohl er ein Scheißkerl sei, der sie schlecht behandle und erniedrige. Ich sagte nichts. Ich sage nämlich nie, was ich denke, außer ich werde gefragt. Irgendwann fragte sie mich: »Hab ich nicht recht?«
Ich wusste wirklich nicht, was ich darauf erwidern sollte. Typen wie Jesus, die immer die richtige Antwort parat haben, habe ich schon immer bewundert: »Gebt dem Kaiser, was des Kaisers ist, und Gott, was Gottes ist.« War ein großer Werbetexter, dieser Jesus.
Also sagte ich schlicht: »Wenn du merkst, dass es für dich nicht mehr stimmt, wirst du sofort gehen.«
[127] »Du bist ein anständiger Junge, nicht so ein Arsch wie Tony. Das Mädchen, das dich mal kriegt, kann sich glücklich schätzen.«
Weil ich in sie verliebt war, hätte ich sie am liebsten gefragt: »Werd du doch meine Freundin«, doch »anständiger Junge« hieß ja wohl, dass sie in mir keinen Mann sah.
Wir unterhielten uns auch über Bücher. Sie nahm Die unerträgliche Leichtigkeit des Seins von Milan Kundera in die Hand, das ich kurz zuvor ausgelesen hatte. Ich erzählte ihr die Story.
»Wenn du möchtest, schenk ich’s dir…«
»Ich kann kein Italienisch lesen.«
Während dieser zwei Stunden, die wir allein waren, habe ich sie geliebt, behaupte ich immer. Wir hatten uns in einer Dimension befunden, die losgelöst war von unseren Lebenswelten, unserer jeweiligen Realität. Dann kam Tony, und sie schlossen sich im Zimmer ein. Ich ging zurück in meins und merkte, dass es mir nicht gutging, ob wegen der Arbeit oder wegen ihr: einfach zu viele Emotionen an einem einzigen Tag. Mein Magen zog sich zusammen. Als ich das Bett quietschen und sie stöhnen hörte, zog ich mich wieder an und verließ die Wohnung. Ich fuhr mit meinem Auto durch die Stadt und begriff nicht, wieso es mir so mies ging. Einfach nur Eifersucht war es nicht, es ging tiefer, es war das altbekannte Gefühl der Machtlosigkeit.
Am nächsten Tag ging ich in die internationale Buchhandlung und kaufte das Buch auf Englisch, The Unbearable Lightness of Being. Als Simi uns ein paar Tage [128] später wieder besuchte, schenkte ich es ihr. Sie bedankte sich und gab mir einen Kuss auf den Mund. Den ganzen Abend lag ich im Bett und schmeckte ihn auf meinen Lippen nach.
Als ich morgens aus dem Zimmer kam, stand Tonys Zimmertür offen. Sie war schon fort, und in der Küche lag das Buch, das ich ihr geschenkt hatte. Sie hatte es vergessen. Ich nahm es wieder an mich und fuhr ins Büro.
Tony behauptete immer, er sei Künstler und dass er deshalb notgedrungen ein anderes Leben führen müsse. »Künstler leben das Leben, das gewöhnliche Menschen nicht leben können. Wir sind gezwungen, die Regeln zu brechen und Grenzen zu überschreiten. Das ist der Preis, den wir zahlen müssen.«
Er und seine Freunde verbrachten die Abende damit, Joints zu bauen und sich zu besaufen, ab und zu gab’s auch eine Linie Koks. Ich
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