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Zeit für mich und Zeit für dich

Zeit für mich und Zeit für dich

Titel: Zeit für mich und Zeit für dich Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Fabio Volo
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die ich aufgesetzt hatte, Name, Alter, Beruf, Herkunft, Nationalität. Ich wollte alles wegwischen und den Menschen dahinter sehen. Doch es gelang mir nicht. Ich sah immer noch mich, denselben wie immer. Das Ich, zu dem ich geworden war. Durch dieses Gesicht sah ich mein ganzes Leben und entdeckte, dass ich nur Dinge sah, die mir nicht gefielen. Wie eine Balletttänzerin, die Stunden vor dem Spiegel verbringt und nichts als Mängel sieht, die sie beheben muss. Vielleicht war das das eigentliche Problem, die eigentliche Blockade. Nicht nur, dass ich nicht wusste, wer ich war – das wenige, das ich kannte, gefiel mir auch nicht.
    Claudio hatte recht: Einen anderen zu imitieren hätte mich nirgendwohin geführt. Aber weil ich bis dahin nie das Gefühl gehabt hatte, in irgendwas gut zu sein, war die Versuchung, andere zu kopieren, einfach zu groß.
    Die Situation im Büro war nicht leicht, doch ich beschloss, nicht aufzugeben und einfach alles hinzuschmeißen. Gott sei Dank ging es dann bald bergauf. Eine kleine Kampagne fand Anklang. Wirklich keine große Sache, [132]  aber mir bedeutete sie sehr viel. Es war die einzige, die ich zusammen mit Maurizio gemacht habe, denn gleich danach bekam ich Nicola zur Seite gestellt, und wir waren sofort unzertrennlich.
    Nicola brachte die Wende. Als Team funktionierten wir prächtig. Irgendwann kamen wir auch an die großen Aufträge ran: Autos, Wahlkämpfe und Medikamente. Plötzlich verdiente ich in einem Monat mehr als in einem Jahr in der Bar. Ich konnte es kaum glauben.
    Es konnte nicht besser laufen. Eines Tages überschüttete mich der Chef in einer Sitzung vor versammelter Mannschaft mit Lob. Er hob meine Willensstärke hervor, den Einsatz und die Großzügigkeit, die ich bei der Arbeit an den Tag legte.
    »Nicht wie gewisse andere, die dabei sind, sich zu verzetteln…«
    Diese Worte waren eindeutig auf Tony gemünzt. Das nunmehr ehemalige Wunderkind benahm sich fortan mir gegenüber seltsam. Die Komplimente für mich und die Anspielung auf ihn bewirkten, dass er mich als Feind, als Rivalen, als Gegenspieler sah. Er, der immer als Mann mit einer großen Zukunft gegolten hatte, als Liebling des Chefs, verlor an Boden. Er fühlte sich bedroht und hängte mir gegenüber den Arroganten raus, um so seine Überlegenheit zu demonstrieren. Dabei wäre das gar nicht nötig gewesen, weil ich sah, dass er mehr draufhatte als ich. Er trat in einen Wettstreit mit mir, mit dem Ziel, mich zu vernichten. Auf jede erdenkliche Art versuchte er es, selbst im Kleinen. Zu Hause kam es rasch zum Knall. In der WG teilt man sich auch den Kühlschrank, [133]  aber in den Supermarkt ging er nur selten und aß lieber das auf, was ich für mich gekauft hatte. Zum Beispiel aß ich gewöhnlich ein Joghurt zum Frühstück, doch manchmal öffnete ich den Kühlschrank und musste feststellen, dass keine mehr da waren.
    »Sag mir doch, wenn du mein Joghurt aufisst, dann kann ich wenigstens ein neues besorgen.«
    Ein beschissener Satz, ich weiß, aber die Situation nervte einfach zu sehr.
    »Du wirst dich doch nicht um ein Joghurt streiten. Morgen kauf ich dir ein Sechserpack«, entgegnete er und stellte mich als die arme Sau hin, die wegen eines Joghurts Stunk machte. Ich wollte mich nicht streiten, ich wollte nur verhindern, dass ich morgens den Kühlschrank aufmachte und nicht das vorfand, was ich essen wollte. Das Sechserpack hat er natürlich nie gekauft.
    Am meisten regte mich aber auf, dass er mich behandelte, als könnte ich mich allein schon deshalb glücklich schätzen, weil ich ihn zum Mitbewohner haben durfte. Wenn ich fernsah und er dazustieß, verlangte er, dass ich umschaltete: Die und die Sendung sei viel interessanter. Anfangs sagte ich nichts, quasi aus Anstand, doch mit der Zeit begann ich mich über sein Verhalten zu ärgern. Zumal der Fernseher mir gehörte, ich hatte ihn gekauft, er hatte nämlich keinen, weil er angeblich sowieso nicht fernsah. Von wegen, er glotzte andauernd.
    Wenn in der Wohnung eine Glühbirne durchbrannte oder ein Rollladen kaputtging, sollte ich mich darum kümmern. »Du bist doch praktisch veranlagt, also mach du das, ich kann das nicht.« Ich tat ihm den Gefallen, [134]  denn es freute mich, es zu tun beziehungsweise tun zu können. Die Message hinter seiner Bitte – ich kann das nicht, weil ich als Künstler zu gut dafür bin – nahm ich nicht wahr. Hätte ich sie wahrgenommen, hätte ich ihm alles beigebracht: wie man den Boden wischt, die Fenster mit der

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