Zeit für mich und Zeit für dich
konzentrierte mich völlig auf sie, auf ihre Lust. Später hat sie mir das nicht mehr erlaubt. Wie so viele Frauen mochte sie es nicht, wenn ich mich auf ihren Orgasmus kaprizierte. Deshalb hat sie mir das nur beim ersten Mal erlaubt, danach wollte sie, dass ich mich auch hingab.
Es war vom ersten Augenblick an klar, dass das nicht nur eine Affäre sein würde und Schluss. Sie war meine Frau, ich ihr Mann.
Daran hat sich auch nichts geändert, trotz allem. Ich werde sie mir wiederholen.
[174] Die längste Reise
Zwei Tage nachdem mein Vater bei mir gewesen war, telefonierte ich mit meiner Mutter. »Danke, dass du Papa geschickt hast, um die Pflanzen auf Vordermann zu bringen.«
»Welche Pflanzen?«
»Na, meine Balkonpflanzen, am Sonntag. Das hast du ihm doch aufgetragen, nicht wahr?«
»Aber nein. Ich habe ihm gar nichts aufgetragen. Er wollte zu einem Freund und ich solle mit dem Essen nicht auf ihn warten, hat er gesagt. Ich habe zwar mitbekommen, wie er die Geräte einpackte, aber dass er zu dir fährt, hat er mir nicht gesagt.«
Ich erwiderte nichts.
»Das ist mir einer, dein Vater. Erzählt mir nichts. Habt ihr geredet?«
»Nein, er hat nur den Balkon auf Vordermann gebracht… da sieht’s jetzt aus wie im Park von Versailles.«
Ein paar Tage später besuchte ich meine Eltern. Beim Mittagessen erkundigte mein Vater sich nach meiner Arbeit, wollte wissen, was ich da so mache, und nach dem Essen setzte er sich nicht sofort wieder vor den Fernseher. Als ich ihn fragte: »Guckst du nicht mehr [175] fern?«, antwortete er: »Mir steht das bis hier.« Ein Wunder.
Nach dem Essen machte ich einen Rundgang durch die Stadt; seit ich dort nicht mehr wohne, kommt sie mir jedes Mal schöner vor. Das Leben ist ruhiger, alles läuft gemächlicher ab, leiser und irgendwie menschlicher. Wenn man nach dem Weg fragt und wissen will, wie lange man bis dahin braucht, lautet die Antwort immer »fünf Minuten«. Eine Stadt, in der man alles in fünf Minuten erreicht.
Ich traf mich mit ein paar alten Freunden. Das Schöne hier ist, dass ich auch allein ausgehen kann, weil ich immer jemanden treffe, den ich kenne.
Am späten Nachmittag schaute ich noch mal bei meinen Eltern vorbei. Der Zug zurück nach Mailand fuhr um acht. Meine Mutter war in der Küche, mein Vater werkelte wie üblich im Keller. Ich ging hinunter, um mich zu verabschieden.
»Was machst du da?«
»Ach, ich räum nur ein bisschen auf. Ich will den überflüssigen Kram loswerden, der dient doch eh nur als Staubfänger.«
»Was? Du willst tatsächlich etwas wegschmeißen, das ist ja ganz was Neues!«
»Tja, es geschehen noch Zeichen und Wunder«, sagte er ironisch.
Sie, die mich verlassen hat und in anderthalb Monaten heiraten wird, hat sich immer darüber beschwert, dass ich kein Wort mit ihr redete, wenn ich abends von der Arbeit nach Hause kam, und dass man nie etwas [176] unternehmen könne, weil ich ständig arbeiten müsse. Genau das fand ich als Kind bei meinem Vater so unausstehlich.
Je älter ich werde, desto bewusster wird mir, wie sehr ich ihm gleiche. Auf einmal verstehe ich viele seiner Reaktionen und Verhaltensweisen, die ich früher verachtete. Ich werde der Person immer ähnlicher, gegen die ich mein ganzes Leben lang angekämpft habe. Erst jetzt, mit den Augen des Erwachsenen, kann ich meinen Vater sehen, wie er wirklich ist. Jetzt, da ich meinen Frieden mit ihm gemacht habe, erschreckt es mich nicht mehr so, wenn ich an mir ähnliche Züge feststelle. Im Gegenteil, ich fühle mich weniger einsam. Ich bin nachsichtiger mit ihm und versuche es auch mit mir selbst zu sein. Ich rette ihn im Versuch, mich zu retten, und ich vergebe ihm im Versuch, mir selbst zu vergeben.
Jahrelang habe ich darauf gewartet, dass er irgendwann einmal »Ich hab dich lieb« zu mir sagen würde. Doch liebevolle Worte sind seine Sache nicht, er zeigt seine Gefühle durch Handlungen, indem er Dinge umräumt, reinigt, repariert, neu ordnet oder zusammenbaut. Seine Liebe ist praktisch: Er redet nicht, er macht. Er wird niemals sagen können: »Ich hab dich lieb«, er wird immer etwas tun müssen, um dieses Gefühl zum Ausdruck zu bringen.
Und eins habe ich inzwischen, nach all den Jahren, kapiert: Wenn er mich tatsächlich einmal in den Arm nehmen oder sich ein »Ich hab dich lieb« abringen würde, wäre es mir garantiert unangenehm, wenn nicht gar peinlich. So einen Satz aus seinem Mund kann ich mir beim besten Willen nicht vorstellen.
[177] An dem
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