Zeit für mich und Zeit für dich
Dingen immer sehr diskret. Gar nichts mehr könne man ihm recht machen: Beim Autofahren hupe er ununterbrochen, weil er der Meinung sei, alle anderen könnten nicht fahren; wenn Handwerker ins Haus kämen, bezeichne er ihre Arbeit als Schlamperei, und ihr, meiner Mutter werfe er vor, sie hätte die und die Hose nicht waschen sollen, weil sie gar nicht schmutzig gewesen sei: »Kein Hemd kann man liegen lassen, schon landet es in der Wäsche…«
Mit der Zeit kriegte er sich wieder ein. Nun ließ er sich vom Fernsehen ruhigstellen. Wie ein kleines Kind, wenn Mama zu tun hat. Wenn ich kam, saß er immer vor dem Fernseher, als würde er nur noch auf den Tod warten, wie einer, der nicht mehr gebraucht wird. Die wenigen Worte, die er sprach, waren voller Müdigkeit und Resignation. Die Gereiztheit hatte sich gelegt, vielleicht durch die Pillen, die er einnahm.
Mehr als am wirklichen Leben nahm er an dem teil, was ihm das Fernsehen vorsetzte. Das Fernsehprogramm bestimmte seinen Tagesablauf. Seine Begeisterung für einen deutschen Kommissar zwang ihn, früher zu essen, da es in der Küche keinen Fernseher gab. So bestimmte der Programmchef des Senders über die Essenszeiten meiner Eltern. Als ich einmal den Vorschlag machte, einen kleinen Fernseher für die Küche anzuschaffen, [185] antwortete er mir: »So tief bin ich auch wieder nicht gesunken.«
Heute führen meine Eltern ein ruhiges, geregeltes Leben. Mal zu verreisen kommt für sie nicht in Frage. Aus finanziellen Gründen könne er nicht wegfahren, sagt mein Vater, aber in Wahrheit geht es gar nicht ums Geld, das ist nur ein Vorwand. Meines Erachtens wollen sie nicht verreisen, weil das für sie unvorstellbar ist, ein Ereignis, das ihre Gewohnheiten durcheinanderbringen würde. Sie haben Angst: Zu Hause zwischen ihren Sachen fühlen sie sich wohl, dort fühlen sie sich sicher.
Wenn sie im Fernsehen Berichte aus den Urlaubsorten sehen, mit überfüllten Stränden und Menschen, die sich fast stapeln, kommentieren sie das immer gleich: »Die müssen doch verrückt sein! Das ist ja anstrengender als zu Hause!« Oder wenn Leute gezeigt werden, die in der Augusthitze der Großstadt Abkühlung suchen und am Brunnen den Kopf unter den Wasserstrahl halten: »Warum bleiben die nicht zu Hause? Die sind doch verrückt!« Das Wort »verrückt« benutzen sie dauernd. Vor allem im Dialekt.
Erstaunlicherweise konnte ich sie letztes Jahr endlich doch dazu überreden, eine Woche ans Meer zu fahren. Ich buchte ein Zimmer in einer kleinen Pension, nicht weil ich sparen wollte, sondern weil ich befürchtete, dass sie sich in einem Luxushotel nicht wohl fühlen würden. In einer Pension hingegen, die einen weiblichen Vornamen hat und wo die Wirtin selbst an der Rezeption steht, würde es ihnen bestimmt gefallen. Sie brauchen [186] einfach den menschlichen Kontakt. Tatsächlich haben sie die meiste Zeit damit verbracht, sich mit der Besitzerin zu unterhalten, fernzusehen und Karten zu spielen. Und bald fing meine Mutter an, ihr in der Küche zu helfen. Sie war es einfach nicht gewohnt, nichts zu tun. Morgens machte sie sogar ihr Bett selbst.
In letzter Zeit hat mein Vater sich erneut verändert. Er ist nicht mehr hyperaktiv, auch nicht mehr wie betäubt, sondern, und das rührt mich, auf einmal hellwach.
Er will zum Beispiel lernen, wie man Handy und Computer benutzt, ja sogar ein bisschen Englisch büffeln. Wie ein Heranwachsender. Er hat Lust, zu lernen und etwas für sich zu tun.
[187] Sie (und Satie)
Es war an einem Sonntag im August. Die Stadt war wie ausgestorben, und am nächsten Tag wollten wir in Urlaub fahren. Um uns vor der Hitze zu schützen, hatten wir den ganzen Tag mit heruntergelassenen Rollläden verbracht. Sie trug einen kurzen Rock und ein Bikini-Oberteil, lief in der Wohnung hin und her, räumte auf und legte die letzten Sachen in den Koffer. Ich, in Boxershorts und mit nacktem Oberkörper, saß am Computer und regelte noch ein paar berufliche Dinge.
Gegen sieben zog sie die Rollläden hoch und öffnete die Fenster. Durch die Terrassentür wehte sofort ein wenig Wind herein. Sie brachte mir ein Glas Zitronentee. Ich griff nach ihrem Handgelenk, zog sie auf meinen Schoß und fuhr ihr mit den Händen durchs Haar. »Ich bin ganz verschwitzt«, sagte sie. Ich küsste sie auf die Lippen, dann auf die Wange, dann auf den Hals. Ich schob das kleine Dreieck des Bikinis zur Seite, meine Hand füllte sich mit ihrer Brust. Wir liebten uns auf dem Stuhl. Als sie
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