Zeit für mich und Zeit für dich
Tag, als er mich besuchte, um die Balkonpflanzen auf Vordermann zu bringen, hat mein Vater die längste Reise seines Lebens unternommen. An dem Tag hat er sich für mich entschieden.
[178] Sie (und die geraubten Küsse)
Eines Abends setzten wir uns ins Auto, um zu einem Restaurant zu fahren. Es war Frühling. Vor einer Bank hielten wir an, sie stieg aus und ging zum Geldautomaten. Sie trug ein dunkelblaues Kleid, das ihre Kurven betonte und einen Teil des Rückens unbedeckt ließ, dazu hohe Schuhe mit roter Sohle. Ich konnte nicht widerstehen: Ich stieg aus und trat hinter sie.
Sie bemerkte es und drehte sich um. »Was machst du da?«
Ich sah sie an und küsste sie wortlos auf den Mund, dann auf den Hals. Danach ging ich wieder zum Auto und betrachtete sie weiter durchs Seitenfenster, während sie das Geld abhob. Sie drehte sich ein paarmal zu mir um. Und lächelte mich an. Sie war glücklich. Ich hatte sie spüren lassen, wie sehr sie mir gefiel, wie verrückt ich nach ihr war.
Ohne etwas zu sagen, stieg sie wieder ins Auto, drehte sich nach hinten, um die Tasche auf den Rücksitz zu legen, und küsste mich.
[179] Bewährtes Gleichgewicht
Nach langen Jahren harter Arbeit und großer Opfer hatten meine Eltern die Bar schließlich verkauft. Das Lokal selbst gehörte ihnen gar nicht, deshalb bekamen sie nur für die Lizenz etwas. Mit diesem Geld und einer kleinen Hilfe meinerseits gelang es ihnen endlich, das Ungeheuer der Schulden zu erlegen. Endlich konnten sie in Rente gehen.
Viele Kunden der Bar waren richtig traurig. Es gab unerwartete Zuneigungsbekundungen, meine Eltern waren ganz gerührt. Vor allem meine Mutter. Ein fast achtzigjähriger Herr, seit je Stammgast in der Bar, schrieb meiner Familie sogar einen Brief:
Ich verspüre das Bedürfnis, Ihnen zu sagen, wie sehr es mich schmerzt, wenn ich die heruntergelassenen Rollgitter der Bar sehe, in der Sie mich so viele Jahre wie ein Familienmitglied empfangen haben. Meine Beine machen nicht mehr so mit und haben mich in letzter Zeit daran gehindert, so oft zu kommen, wie ich gern gewollt hätte, aber das mindert nicht die Zuneigung, mit der ich mich an Sie erinnere. Die Welt wird immer dürrer, deshalb lasse ich hier dem Gefühl Raum. Vielen Dank für alles, ich erlaube mir, Sie zu umarmen.
[180] Inzwischen habe ich einen Kredit aufgenommen und die Wohnung gekauft, in der meine Eltern jetzt wohnen. Anfänglich war mein Vater dagegen. Um ihn zu überzeugen, sagte ich, eine Wohnung in Mailand sei zu teuer, das könne ich mir nicht leisten, aber hier bei ihnen seien die Preise erschwinglicher. Eine reine Geldanlage, erklärte ich, und da ich nicht so bald zurückkäme und die Wohnung auch nicht leer stehen lassen wolle, sei es mir lieber, wenn sie dort einzögen. Da gab er nach.
So führen sie jetzt ein ruhiges Leben in der Provinz. Beide bekommen eine Minirente. Ich unterstütze sie ein bisschen, aber sie versuchen möglichst wenig auszugeben. So sind sie nun mal. Obwohl sie jetzt keine Schulden mehr abbezahlen müssen, haben sie ihre Gewohnheiten nicht geändert. Sie wünschen sich kein anderes Leben. Den Einkauf machen sie beim Discounter, wo zwar alles billig ist, der Käse aber oft wie Plastik, die Mozzarella wie Gummikugeln schmecken und die Schokoriegel mit einer weißen Schicht überzogen sind. Immer wieder habe ich sie davon zu überzeugen versucht, bessere Produkte zu kaufen, aber da beiße ich auf Granit. »Wir sind damit zufrieden, das weißt du doch, und diese Kekse hier sind wirklich lecker…« Um nicht als voreingenommen zu gelten, habe ich sie tatsächlich probiert: die reinsten Sägespäne. Immer nur Billigprodukte. Genau wie damals, als wir die Bar hatten. Für uns selbst kauften wir immer das Billigste, nannten es dann aber so wie die guten Produkte. Schinken sagten wir, obwohl es Formfleisch war, und jede Schokocreme war Nutella, auch wenn sie vollkommen anders schmeckte.
[181] Manchmal bringe ich meinen Eltern etwas Besonderes mit, einen Käse, einen Wein oder einen Honig, doch kaum erkläre ich, was daran speziell ist, sagen sie schon: »Für uns brauchst du das nicht aufzumachen, nimm es ruhig wieder mit, und iss du es. Du weißt doch, davon verstehen wir nichts.« Das stimmt sogar, sie schmecken den Unterschied nicht. Und wenn sie ihn schmecken, mögen sie doch lieber, was sie immer essen. Nicht weil es besser schmeckt, sondern weil sie gern am Gewohnten festhalten. »Ja, schmeckt gut«, sagen sie jeweils, »aber was die
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