Zeit für mich und Zeit für dich
Leute daran so toll finden, verstehe ich nicht, wenn man die reden hört, könnte man meinen, das müsse Gott weiß was sein…« Wahrscheinlich sind ihre Geschmacksknospen nach all den Jahren auf ein paar wenige Grundaromen geeicht.
Trotzdem, dass es solche und solche Lebensmittel gibt, wissen sie schon, denn wenn ich komme, wird oft etwas anderes eingekauft. Meine Mutter macht zwei Einkäufe, die guten Sachen kauft sie nur für mich. Parmaschinken zum Beispiel: Wenn sie das Paket mit dem rohen Schinken aufrollt, bekommt sie leuchtende Augen wie der Engel Gabriel bei der Verkündigung. Ganz begeistert sagt sie dann: »Der ist richtig gut, den habe ich extra für dich gekauft.«
Wenn ich meinem Vater eine Scheibe von dem extra für mich gekauften Schinken auf den Teller lege, sagt er erst nein, isst ihn dann aber doch. Er verputzt auch alles, was übrigbleibt. Meine Mutter sagt immer: »Lass liegen, wenn du es nicht mehr schaffst, das isst Papa heute Abend.« Wenn beim Abendessen etwas übrigbleibt, [182] wandert der Teller in den Kühlschrank und steht am nächsten Tag beim Mittagessen vor meinem Vater.
Es fehlt ihnen an nichts, und das ist gut so. Würde ich versuchen, ihre Gewohnheiten zu ändern, würde ich sie dadurch nicht glücklicher machen, im Gegenteil. Man muss die Würde des anderen respektieren und begreifen, dass jeder seine eigenen Maßstäbe hat. Meine Eltern leben seit fast vierzig Jahren zusammen, und sie haben bewährte, aber auch labile Balancen und Mechanismen. Nach all den Jahren hat sich zwischen ihnen eine Beziehungsdynamik entwickelt, an die ich besser nicht rühre.
Zum Essen und zu den Dingen haben sie ein streng funktionales Verhältnis. Essen bedeutet sich ernähren. Auch Gegenstände werden nur nach ihrer Funktionalität gekauft, nicht nach ästhetischem Empfinden. Sie würden nie einen teuren Stift kaufen, und sie haben auch kein Verständnis für Menschen, die das tun. »Hauptsache, er schreibt. Warum soll man dafür Geld ausgeben? Warum soll man ins Kino gehen, wo sie den Film doch in einem Jahr sowieso im Fernsehen zeigen? Was sollen wir mit Bezahlfernsehen? Wir gucken das, was kommt…«
Ihr Leben ist von Gewohnheiten bestimmt, von immer gleichen Tagesabläufen. Auch jetzt, da sie in Rente sind, hat sich daran nur wenig geändert. Wenn meine Mutter zum Beispiel morgens einkaufen geht, legt sie meinem Vater, der dann noch schläft, einen Zettel hin: »Bin einkaufen. Die Zeitung kaufe ich.« Sie füllt die Espressokanne und stellt sie auf den Herd, so dass mein Vater nur das Gas anzünden muss. Das läuft ohne Zettel, weil es schon immer so war. Als sie noch die Bar [183] hatten, präparierte sie die Espressokanne schon am Vorabend. Den ersten Kaffee trank mein Vater nämlich immer gern in der Wohnung, bevor er sich dann in der Bar noch einen machte. Außer der Espressokanne legt sie ihm jetzt auch noch seine Blutdruck- und Diabetespillen hin, auf einer Serviette, als wären es Bonbons vom Nikolaus.
Diese Zettel meiner Mutter finde ich rührend. Kleine Mitteilungen, die die beiden schon ein Leben lang austauschen. Etwas Vergleichbares habe ich bisher noch mit keiner Frau zustande gebracht. Zumindest bis jetzt nicht.
Meine Mutter hat sich kaum verändert, seit sie in Rente ist. Sie führt weiterhin den Haushalt, hat jetzt aber mehr Zeit für Einkäufe und unternimmt lange Spaziergänge in die Innenstadt, doch für sie ist Freizeit tendenziell kein Problem. In der Bar war sie weniger eingespannt, sie war mehr Mutter und Hausfrau, und das ist sie auch weiterhin. Sie ist unbeschwert, vielleicht weil sie nie große Ansprüche ans Leben gestellt hat und deshalb auch weniger enttäuscht wurde.
Mein Vater ist unruhiger, ihn quält das Gefühl, versagt zu haben. Es ist nicht leicht, das eigene Leben plötzlich neu zu organisieren, wenn man zuvor so gehetzt war wie er. Nachdem er Jahr um Jahr immer nur gearbeitet hatte, sah er sich plötzlich mit einer endlosen Freizeit konfrontiert, mit der er nichts anzufangen wusste. In den ersten Wochen und Monaten als Rentner wäre er fast durchgedreht: Alle zwei Tage stellte er die Töpfe auf der Terrasse um, er strich Wände, Geländer, Regale, reparierte [184] das Fahrrad, sägte Holzbretter zu, hämmerte und bohrte. Er jammerte und maulte ununterbrochen. Das weiß ich, weil meine Mutter es mir erzählt hat. Allein die Tatsache, dass sie sich mir anvertraute, sagte mir, dass er wirklich unerträglich war, denn eigentlich war sie in solchen
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