Zeit für mich und Zeit für dich
kam, spürte ich, wie sich ihre Muskeln verkrampften und dann urplötzlich entspannten, während sie die Arme um mich schlang. Dann blieben wir noch eine Weile so auf dem Stuhl sitzen und ließen uns vom Wind liebkosen.
[188] Aus dem Computer erklang die Gnossienne No. 1 von Satie. Kurz darauf wehte der Duft von gegrilltem Fleisch durchs Fenster herein, und wir mussten lachen, ich weiß nicht, wieso. Dann duschten wir und machten vor dem Abendessen einen Spaziergang. Hand in Hand, nur ab und zu ein paar Worte wechselnd, lauschten wir den Fernseherstimmen, die aus den wenigen offenen Fenstern schallten. Bevor ich schlafen ging, nahm ich den Tee, den sie mir gebracht und den ich nicht getrunken hatte, goss das Glas aus und wusch es ab.
[189] Ein neues Leben
Ich habe keine Kinder, deshalb weiß ich nicht, was man empfindet, wenn man seinem Sohn oder seiner Tochter etwas beibringt. Dafür weiß ich jetzt, was für ein Gefühl es ist, wenn man seinen Eltern etwas beibringt, auch Kleinigkeiten, wie man ein Sudoku löst oder so. Es ist toll, sich nützlich zu fühlen, zu wissen, dass man etwas zurückgibt.
Als mein Vater fragte, ob ich ihm beim Englischlernen helfen würde, war ich erst mal baff. Doch dann habe ich mich köstlich amüsiert. Meine Mutter hatte er auch zum Mitmachen überredet, aber den beiden zu verklickern, wie die Übungen in dem Lehrbuch funktionierten, das sie sich gekauft hatten, war ein Ding der Unmöglichkeit.
Übung 1. Formuliere die Frage zu den folgenden Antwortsätzen:
Antwort: Tom lives in London.
Richtige Frage: Where does Tom live?
Frage meiner Eltern: Lebt er gern dort?
Ich versuchte ihnen zu erklären, dass die gesuchte Frage die vor der Antwort war und nicht die danach, aber sie kapierten es nicht.
[190] Antwort: My name is Mark.
Richtige Frage: What’s your name?
Frage meiner Eltern: Und mit Nachnamen?
Entmutigt ging ich zur nächsten Übung über:
Übung 2: Kombiniere die Begriffe in Spalte 1 mit den Tätigkeiten oder Arbeiten in Spalte 2. Beispiel: Jane is a teacher.
Die letzte Lösung meiner Eltern lautete: My dog is a journalist.
Das Englischlernen hat mein Vater bald aufgegeben, dafür kommt er mit dem Handy gut zurecht. Er hat gelernt, wie man eine SMS verschickt, und damit sogar einen Weg gefunden, mir seine Gefühle mitzuteilen. Es mag absurd erscheinen, aber so ist es: Mein Vater simst. Er könnte nie einen Brief schreiben wie meine Mutter, aber mit Hilfe des Handys hat er ein Mittel gefunden, mit mir zu kommunizieren. Seine erste SMS an mich lautete: hallo lorenzo wie geht es dir fragezeichen.
Fragezeichen ausgeschrieben, weil ich vergessen hatte, ihm die Satzzeichen beizubringen.
Die zweite SMS lautete dann schon: wir würden dich gerne sehen wann kommst du?
Als diese Nachricht kam, war ich erst mal geplättet und starrte mindestens fünf Minuten reglos aufs Display. »Wir« hat er vermutlich geschrieben, weil »ich« denn doch zu viel für ihn gewesen wäre.
Ich wusste nicht, wie ich antworten sollte. Mindestens [191] zwanzig Mal versuchte ich eine Nachricht zu formulieren, dann gab ich es auf.
Absurderweise wirken die SMS meines Vaters viel stärker als die geschriebenen Worte aus dem Brief meiner Mutter. Auch physisch ist meine Mutter viel unbefangener: Sie kann mich umarmen. Als sie mir den Brief schrieb, war das eine rührende Geste, aber damit mein Vater diese paar Worte in sein Handy tippen konnte, musste er einen viel weiteren, viel schwierigeren Weg zurücklegen. Um das zu tun, musste er sich selbst einbringen, sich über eine Menge Dinge klarwerden. Mit seiner SMS hallo lorenzo wie geht es dir fragezeichen hat er mir, ohne es zu merken, von einem Wunder berichtet.
[192] Aber dem war nicht so
Die letzte Werbekampagne, an der ich mit Nicola gesessen habe, war eine große Sache: Es ging um die Einführung eines neuen Automodells. Der klassische Job, bei dem man Nachtschichten schiebt. Eines Abends machten wir eine Pause und bestellten uns zwei Pizzas, dazu entkorkten wir eine Flasche von dem Wein, den wir eigens für solche Gelegenheiten in der Agentur haben. Es ist schön im Büro, wenn alle weg sind. Dann ist alles ruhig, kein Krach, kein Stress, und selbst eine Pizza Margherita aus dem Karton ist dann was Außergewöhnliches.
Nicola schrieb eine SMS nach der anderen.
»Was tippst du denn da die ganze Zeit?«, fragte ich ihn.
»Ich schreibe an Sara.«
»Das war mir klar. Mit ihr läuft das ja von Anfang an so.«
Früher musste man
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