Zeit für mich und Zeit für dich
getroffen hatte, bombardierte ich ihn mit Fragen, doch als er von ihm zu erzählen begann, unterbrach ich ihn sofort: »Okay, okay… genug, das reicht jetzt.« Von anderen holte ich weitere Informationen ein, setzte alle Teile zusammen und erschuf in meiner Phantasie ein Ungeheuer, eine Art Frankensteins Monster. Leider hat dieser Scheißingenieur jede Menge tolle Seiten, und deshalb hasse ich ihn noch mehr.
[204] Nicola behielt den Eingang im Auge und gab ab und zu einen Kommentar von sich: »Was wir hier machen, ist was für Frauen und Kranke. Eine Frau bist du nicht, also muss ich dir leider sagen, dass du krank bist. Es fängt ganz harmlos an, anfangs kommt man sich vielleicht ein bisschen komisch vor, aber mit der Zeit findet man es ganz normal, bis man eines Tages auf dieser Bank wohnt und schläft, zugedeckt mit Zeitungen.«
Fast zwei Stunden und eine Menge schwachsinniger Bemerkungen später rief Nicola endlich: »Da ist er!«
Ich sah mir den Scheißingenieur genau an: Das konnte nicht der Mann sein, den sie heiraten wollte. Und doch war er es, er war es wirklich. Er sah vollkommen anders aus, als ich ihn mir vorgestellt hatte, kein bisschen wie einer, der mit ihr zusammen sein konnte. Wieso ausgerechnet er? Als er über den Bürgersteig ging, ließ ich ihn keinen Augenblick aus den Augen, doch schon nach zehn Metern betrat er eine Bar.
Im Lauf der Jahre, in denen wir zusammen waren, erfuhr ich viele kleine Geheimnisse von ihr. Es gab Augenblicke, in denen sie sich mir vollkommen öffnete, in denen Kleinigkeiten bei ihr Erinnerungen an weit zurückliegende Ereignisse auslösten. So enthüllte sie mir Bruchstücke aus ihrer Kindheit und ihrem Leben, fast vergessene Details. Ich erfuhr, dass sie als Kind eine rote Nachttischlampe hatte und eine Aristocats-Deckenlampe in ihrem Zimmer hing. Und dass ihr Fahrrad einen weißen Sattel hatte. Auch dass sie als Kind gern badete, weil sie sich für eine Sirene hielt, und einen gelben Bademantel trug. Dass ihr Bruder sie mal von der Rutsche [205] schubste und sie sich dabei so weh getan hat, dass es genäht werden musste. Wenn sie Zeichentrickfilme anschaute, lag sie kopfüber auf dem Sofa. Ihre erste Menstruation war ein traumatisches Erlebnis: Ihre Mutter hatte ihr nur gesagt, es tue gar nicht weh, man müsse sich nur waschen. Eines Morgens war es so weit, sie wusch sich und ging dann zur Schule. Als sie ein paar Stunden später plötzlich mit blutverschmiertem Rock vor ihren Mitschülern stand, flüchtete sie erschrocken auf die Toilette und kam nicht mehr in die Klasse zurück. Die Lehrerin musste ihr nachgehen, sie beruhigen und ihr alles erklären. Zum ersten Mal in ihrem Leben erfuhr sie weibliche Solidarität. Ich weiß auch, dass Goyas Die nackte Maja ihr Lieblingsgemälde ist. Dass Mantegnas Beweinung Christi sie jedes Mal zutiefst berührt. Ich weiß, dass sie vor dem Schlafengehen immer einen Kräutertee trinkt, obwohl sie es hasst, dass der Teebeutel oben schwimmt und nicht richtig eintaucht. Ihre Lieblingsfilme haben immer zwei Namen im Titel: Harold und Maude, Minnie und Moskowitz, Jules und Jim. Ich weiß, dass sie Bücher wie Du hast das Leben noch vor dir von Romain Gary, Arme Leute von Fjodor Dostojewski oder Zärtlich ist die Nacht von Francis Scott Fitzgerald alle paar Jahre wiederliest und jedes Mal aufs Neue ergriffen ist.
Ich frage mich, ob er, der Mann, den ich heimlich beobachte, all das weiß. Ob er in die verborgenen Winkel ihres Lebens vorgedrungen ist, und wenn ja, in welche. Ich will den weißen Sattel, die Deckenlampe mit den Aristocats, die rote Nachttischlampe für mich allein. Genauso wie den Morgen in der Schule, als sie ihre Tage [206] bekam, und die Stiche, mit denen sie genäht wurde, als sie von der Rutsche fiel. Ich will diese Dinge mit niemandem teilen. Ich frage mich, was er weiß, was ich nicht weiß, ob sie ihm auch von mir erzählt hat und was. Was weiß er über mich?
Ich spürte die Versuchung, in die Bar zu gehen, mich vorzustellen und ihm Bescheid zu sagen: »Lass uns in Ruhe, Herr Ingenieur. Das geht dich alles nichts an. Hände weg von dem weißen Sattel, von der Lampe mit den Aristocats.«
Stattdessen wandte ich mich wieder Nicola zu und sagte obercool: »Okay, gehen wir.«
Jetzt konnte ich meinen Phantasien endlich ein Gesicht geben.
Ich schaffte es einfach nicht, sie zu vergessen. Dass sie mit einem anderen Mann zusammen war, hatte ich irgendwie noch gerafft, aber gleich heiraten, das konnte ich
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