Zeit für mich und Zeit für dich
reicht schon, um ihn auszusortieren.«
»Hast du eigentlich immer eine Zahnbürste in der Handtasche, nur für den Fall?«, erkundigte sich Nicola.
»Das hängt davon ab, mit wem ich ausgehe.«
»Die Zahnbürste ist für die Frauen das Gleiche wie für die Männer das Kondom. Männer stecken vorsorglich Kondome ein für den Fall, dass sie vielleicht Sex haben, Frauen nehmen vorsorglich eine Zahnbürste mit für den Fall, dass sie eventuell außer Haus übernachten.«
Es war rührend, wie die beiden mich abzulenken [215] versuchten. Gegen zwei Uhr morgens gingen wir alle nach Hause, außer Giulia, die ja schon zu Hause war.
Ich tat die ganze Nacht kein Auge zu. Es war eine dieser Nächte, in denen man jemanden anrufen möchte, aber alle schlafen. Eine dieser Nächte, in denen man denkt: ›Verdammt, warum hab ich bloß keinen Freund in Japan?‹
Noch etwas anderes ließ mir in dieser Nacht keine Ruhe: Es schien mir, dass die Nachricht von ihrer bevorstehenden Hochzeit mich stärker erschütterte als die von der Krankheit meines Vaters. Und dafür schämte ich mich.
Ich wollte sie anrufen, weil ich dachte, nachdem ich das von meinem Vater erfahren hatte, würde sie mich nicht einfach abwimmeln können. Ja, das habe ich gedacht. Ich bin wirklich erbärmlich.
Als ich sie tatsächlich anrief, war ihr Handy abgeschaltet.
Es ging mir nicht gut, es gelang mir nicht, mich zu beruhigen. Ich stellte mir vor, mein Vater liege ebenso wach wie ich. Auch ihn hätte ich gern angerufen. Ungeduldig wartete ich darauf, dass es endlich Morgen wurde. Ich spürte die ganze Last des Lebens, fühlte mich einsam.
Noch bevor es hell wurde, duschte ich, zog mich an und holte den Wagen. Ich fuhr einmal quer durch Mailand und dann auf die Autobahn. Um halb sechs kurvte ich im Auto um das Haus meiner Eltern herum, parkte in der Innenstadt und machte einen Spaziergang.
Ich fand eine Bar, die schon geöffnet hatte, und ging hinein. Bei dem verschlafenen Mann am Tresen bestellte [216] ich einen Cappuccino, ein Croissant und einen Pfirsichsaft. Außerdem kaufte ich noch ein Päckchen Zigaretten, obwohl ich schon fast zehn Jahre nicht mehr rauchte. Ich frühstückte am Tresen, dann setzte ich mich zum Rauchen vor die Bar. Ich weiß nicht, warum, aber ich klammerte mich an dieser Zigarette fest. Mein Vater, früher Raucher, hatte etwas an der Lunge, und ich, voller Sorge um ihn, rauchte jetzt eine Zigarette… Nach dem dritten Zug kam ich mir blöd vor und warf sie weg. Ich ging wieder in die Bar und bestellte noch einen Espresso, um den Tabakgeschmack zu vertreiben. Dann stieg ich wieder ins Auto und fuhr zum Haus meiner Eltern.
Allmählich wurde es hell. Die Schatten der Straßenlaternen verblassten langsam und machten Platz für Dinge, Formen, klare Umrisse. Ein paar Minuten war der Himmel auf der einen Seite noch dunkel, und man sah die Sterne, während auf der anderen Seite bereits das helle Blau erwachte. Ich war ergriffen vom Gähnen dieses Morgens.
Früh aufstehen ist mir immer schwergefallen, aber wenn ich es schaffe, dann bin ich von Licht, Stille und Luft wie verzaubert. Es herrscht ein Friede, der überwältigend ist. Die Sonne aufgehen zu sehen ergreift mich jedes Mal. Wobei ich das in den seltensten Fällen deshalb erlebe, weil ich früh aufstehe. Meist bedeutet die Morgendämmerung für mich das Ende einer durchgemachten Nacht. Dann frühstücke ich vielleicht noch mit Freunden und gehe mit dem Geschmack von Cappuccino und Croissant im Mund ins Bett.
An diesem Morgen fand ich ein anderes Licht [217] ergreifend: das Licht in der Küche meiner Eltern. Dieses Licht in der Stille wärmte mir das Herz. Ich stellte mir vor, wie meine Mutter im Morgenmantel den Espresso für meinen Vater aufsetzte, während er sich im Bad rasierte.
In der Wohnung duftete es tatsächlich nach Kaffee. Und tatsächlich war meine Mutter in der Küche, und mein Vater machte sich im Bad fertig.
»Möchtest du diesen Kaffee? Dein Vater kommt heute gar nicht mehr aus dem Bad raus…«
»Ja, bitte.«
»Willst du auch etwas essen?«
»Nein, ich hab schon ein Croissant gehabt.«
»Hier der Kaffee… Wann bist du aufgestanden?«
»Ich habe gar nicht geschlafen.«
Sie füllte die Espressokanne erneut, stellte sie auf den Herd und bat mich, darauf zu achten, während sie die Kleidung für meinen Vater zurechtlegte.
Ich setzte mich. Am Kopfende, auf einer Serviette, hatte meine Mutter ihm Tabletten bereitgelegt. Ich saß schon ein paar Minuten so
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