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Zeit für mich und Zeit für dich

Zeit für mich und Zeit für dich

Titel: Zeit für mich und Zeit für dich Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Fabio Volo
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Himmels langsam ins Indigo übergeht und die ersten weißen oder gelben Sterne aufblitzen. Im Winter, wenn in den Häusern die ersten Lichter angehen, die Straßenlaternen und die Scheinwerfer der Autos. Wo ich mich gerade befinde, spielt keine Rolle: Es kann sogar auf der Autobahn geschehen. Dann kann selbst ein Wassertropfen, der über die Windschutzscheibe rinnt, mich ergreifen, als liefe er über meine Seele.
    Es dauert eine Weile, bis ich nach einem solchen ätherischen Schwebezustand wieder zu mir komme. Langsam wird die Haut wieder Grenze, Trennung, Spaltung. [212]  Und ich werde wieder ich selbst, kehre zu meinem Namen, meinem Alter zurück. Ich beginne, über mich und mein Leben nachzudenken. Über meine Zeit, über den Mann, der aus dem Kind geworden ist, das ich früher mal war. Wie jeder andere bin ich die Summe einer unendlichen Zahl von Personen, die ich im Lauf meines Lebens gewesen bin. In dem Zustand fühle ich mich wie der Mann auf Nicolas Lieblingsbild Wanderer über dem Nebelmeer von Caspar David Friedrich.
    Genauso verloren fühlte ich mich an dem Tag, als ich bei Giulia auf dem Sofa saß, nachdem meine Mutter mich über den Gesundheitszustand meines Vaters aufgeklärt hatte.
    Möglicherweise musste mein Vater bald sterben. Der Wein, den ich trank, schmeckte nach nichts.
    »Mein Vater hat heute beim Mittagessen zu meiner Mutter gesagt, er würde sich freuen, wenn ich ihn morgen begleite, um die Untersuchungsergebnisse abzuholen.«
    »Und, gehst du mit?«
    »Natürlich. Offenbar wünscht er sich, dass ich mitgehe… Ich kann’s kaum glauben.«
    »Dein Vater ist immer für eine Überraschung gut.«
    »Hoffentlich ist es nicht so ernst, wie es sich anhört. Ich will ihn nicht verlieren. Ich bin noch nicht bereit. Das werde ich nie sein, ich weiß, aber er darf mir das nicht antun, nicht ausgerechnet jetzt, wo wir im Begriff sind, uns näherzukommen, wo wir langsam einen Weg finden, uns zu verständigen, wo wir dabei sind, uns näher kennenzulernen…«
    »Ich sage jetzt nicht, mach dir keine Sorgen oder denk [213]  einfach nicht dran, solche Sprüche machen einen erst recht nervös und unruhig. Aber ich könnte versuchen, dich abzulenken.«
    »Leg doch einen Striptease hin.«
    »Wenn’s dir dadurch bessergeht…«
    »Ich ruf jetzt erst mal Nicola an und sag ihm, dass ich morgen nicht zur Arbeit komme.«
    Eine halbe Stunde später klingelte es an der Tür: Es war Nicola. Zusammen mit Giulia leistete er mir den ganzen Abend über Gesellschaft.
    Giulia hatte eigentlich eine Verabredung mit einem Mann, doch sie sagte ihm ab. Es sei ihr etwas dazwischengekommen.
    »Bist du verrückt? Du musst doch nicht extra wegen mir hierbleiben. Nicola und ich können zu mir rübergehen.«
    »Ach, das ist kein großer Verzicht. Ich probier’s halt immer wieder, aber eigentlich weiß ich schon jetzt, dass der es auch nicht ist. Obwohl ich mir eigentlich keine Illusionen mehr mache, hoffe ich immer wieder, positiv überrascht zu werden. Aber es läuft doch immer gleich, und je mehr einer redet, desto eher durchschaue ich ihn. Bei bestimmten Männern weiß ich oft schon, was sie als Nächstes sagen werden, wie sie argumentieren und sich verhalten werden. Manche tarnen sich besser, die können einen am Anfang besser täuschen, doch nach und nach kommt ihre wahre Natur zum Vorschein. Der Letzte, mit dem ich ausgegangen bin, hat nach ein paar Wochen zu mir gesagt: ›Ich kann nicht mit einer Frau zusammen sein, die mehr weiß als ich. Du bist einfach [214]  zu intelligent für mich. Da fühle ich mich als Mann in Frage gestellt.‹ Mit anderen Worten, ich müsste dümmer sein.«
    Giulia ist wie ich, sie findet keinen, der ihr wirklich gefällt. Der Unterschied ist, dass sie es weiter versucht und nicht aufgibt.
    »Und der Typ von heute Abend, ist das ein Neuzugang oder war er schuld am letzten walk of shame ?«
    Den walk of shame oder Weg der Schande geht, wer mit seinem Date schläft, in der fremden Wohnung übernachtet und am nächsten Morgen vor der Arbeit schnell noch nach Hause muss, um sich umzuziehen. Frauen sieht man das sofort an, wenn sie morgens im Partykleidchen durch die Menschenmenge der Berufstätigen stöckeln. Walk of shame nennen das die Amerikaner, denn in der Situation hat man das Gefühl, dass alle einen anstarren, als wollten sie sagen: ›Aha, ist wohl ganz schön spät geworden, letzte Nacht.‹
    »Nein, ein Neuer. Wir haben bisher erst einen Kaffee zusammen getrunken, aber ich glaube, das

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