Zeit für mich und Zeit für dich
müssen wir uns denn einstellen?«
»Ich will ganz offen sein«, erwiderte er und wiederholte in etwa das, was ich schon von Giulia wusste. Es gab zwei Möglichkeiten: Entweder es reichte ein kleiner Eingriff, oder es musste eine Chemo her, aber dann war nichts mehr zu machen, dann blieben ihm nur noch wenige Monate.
»Sobald ich die Ergebnisse habe, rufe ich Sie rein«, sagte der Arzt und eilte davon. Bei jedem Schritt flatterte sein Kittel wie der Umhang eines Superhelden.
Ich ging zurück zu meinem Vater und setzte mich zu seiner Linken. Gegenüber war ein sehr großes, offenes Fenster. Draußen sah man einen Baumwipfel, der sich im Wind wiegte. Ich lehnte den Kopf an die Wand, schaute nach oben und wünschte sehnlichst, ein Stück blauen Himmel zu sehen, in das ich eintauchen und verschwinden könnte. Doch die Zimmerdecke war wie ein großes weißes Blatt, das mir den Weg versperrte. Mein Vater saß kerzengrade da und sah schweigend aus dem Fenster.
Er trug eine perfekt gebügelte Hose, ein sauberes [222] Poloshirt und eine beigefarbene Jacke, die er selten anzog. Die Kleidungsstücke hatte meine Mutter am Morgen zurechtgelegt, wie jeden Tag. Seine braunen Schuhe waren neu, sie hatte sie vor ein paar Tagen auf dem Markt gekauft. Die Sonntagskleider, wie es früher hieß. Wenn meine Eltern zum Arzt oder zum Anwalt gehen oder einen Besuch machen, ziehen sie ihre besten Sachen an. Das gehört sich so.
Ich schloss die Augen und lauschte auf die typischen Krankenhausgeräusche: das gedämpfte Reden der Patienten, das Lachen der Krankenschwestern, Schritte, Bahren, Türen, die geschlossen wurden. Ich öffnete die Augen wieder, löste den Kopf von der Wand, beugte mich vor und zog eine Tüte Bonbons aus der Tasche. Ich hielt sie meinem Vater hin, und er nahm sich eins. Ich steckte die Tüte wieder ein und streckte ihm die offene Hand entgegen, er knüllte das Bonbonpapier zusammen und legte es mir hinein. Dann sah er mich an und sagte: »Danke.«
All diese Gesten vollzogen wir mit einer Bewusstheit, als wären es die letzten. Während in meinem Kopf noch das »Danke« meines Vaters nachhallte, stand ich auf, um die Bonbonpapiere wegzuwerfen, merkte aber sofort, dass es mir schwerfiel, seins wegzuwerfen. Reglos stand ich vor dem Abfallkorb und nestelte unschlüssig an dem Papier herum. Versuchte, Zeit zu gewinnen. Schließlich warf ich es doch weg und setzte mich wieder.
Ich hörte das Geräusch seiner Zähne, als er das Bonbon kaute. Ich lehnte den Kopf nicht mehr an die Wand, blieb gerade sitzen wie er und sah aus dem Fenster. Mein [223] Vater brach das Schweigen: Es ziehe sich zu, meinte er. »Dann regnet es bestimmt bald«, antwortete ich lakonisch.
Dann wieder Schweigen. Ein langes Schweigen, wie auf Zehenspitzen, das mein Vater erneut brach: »Weißt du, als dein Großvater starb, saß ich an seinem Bett.«
Ich wandte mich ihm zu. Das war es also, woran er in dieser Stille dachte.
»Er ist um die Mittagszeit gestorben, und ich war zufällig allein im Zimmer, weil deine Oma mit der Tante und zwei Besuchern hinuntergegangen war, um etwas zu essen. Seit einem Monat war es mit ihm immer mehr bergab gegangen. Ich habe mit angesehen, wie er den letzten Atemzug tat. Plötzlich atmete er irgendwie komisch, dann holte er noch mal tief und geräuschvoll Luft und war tot.«
»Hattest du Angst?«
»Nein, Angst nicht. Erst war ich geschockt.« Er verstummte einen Augenblick lang, als spulten vor seinem geistigen Auge noch einmal die Bilder dieser Erinnerung ab, dann fügte er hinzu: »Und dann habe ich etwas Seltsames getan. Das weiß aber keiner, du bist der Erste, dem ich das erzähle.«
»Was denn?«
»Ich bin aufgestanden, und anstatt den anderen gleich Bescheid zu sagen, habe ich die Tür zugemacht und abgeschlossen. Ich habe mich mit ihm eingeschlossen, habe mich wieder neben ihn gesetzt und ihn angestarrt. Eine halbe Ewigkeit, glaube ich, habe ich so dagesessen und ihn angestarrt. Irgendwann bin ich aufgestanden, habe [224] die Tür wieder aufgeschlossen und bin nach unten gegangen, um den anderen zu sagen, dass er tot war. Keine Ahnung, warum ich mich mit ihm eingeschlossen habe.«
»Vielleicht weil du ihn nie zu fassen bekommen hast und in dem Moment endlich mal mit deinem Vater allein sein konntest. Hast du geweint?«
»Nein, ich kann nicht weinen. Ich habe praktisch nie geweint, auch als Kind nicht.«
»Was? Du hast als Kind nie geweint?«
»Bis ich fünf oder sechs war schon, danach nicht
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