Zeit für mich und Zeit für dich
mehr. Selbst dann nicht, wenn deine Oma mich verprügelte. Das brachte sie dann derart aus der Fassung, dass sie immer weiter auf mich eindrosch. Einmal, weiß ich noch, hat sie das so entnervt, dass ich mich auf den Bauch legen musste, und sie ist mir mit dem Fuß auf den Rücken gestiegen und hat dabei von mir verlangt, endlich zu weinen.«
»Meine Oma?!«
»Ja. Wenn sie mich nicht zum Weinen bringen konnte, verlor sie die Beherrschung. Eins der letzten Male, dass ich als Kind geweint habe, hat mein Vater mich hochgenommen, über den Herd gehalten und gedroht, mich fallen zu lassen, wenn ich nicht sofort aufhörte. Ich erinnere mich noch an die glühenden Ofenringe. Vor lauter Panik habe ich nur noch mehr geweint. Danach habe ich fast ein Jahr lang gestottert. Um sprechen zu können, musste ich mit der Faust auf den Tisch hauen oder irgendwas kaputtmachen.«
»Das muss ja ein schwerer Schock gewesen sein. Ich hätte nie gedacht, dass Oma dich geschlagen hat.«
»Beide, Oma und Opa. Wenn meine Mutter mich [225] versohlte, sagte sie immer, ihre Schläge täten ja nicht weh. Tatsächlich wurde es erst richtig schlimm, wenn mein Vater loslegte. Manchmal griff er sogar zum Gürtel, und nachdem er mich windelweich geprügelt hatte, sagte er: ›Und jetzt ab in dein Zimmer, lass dich bloß nicht mehr blicken, bevor ich es dir erlaube.‹ Dann vergaß er mich aber und ließ mich den ganzen Tag dort schmoren.«
»Ich wusste gar nicht, dass Opa so gemein war.«
»Er war nicht gemein. Damals machte man das so.«
»Wie meinst du das?«
»Es war normal, alle machten das so. Sie trichterten einem die Sachen mit Hilfe von Schlägen ein, große Alternativen kannte man nicht, da wurde nicht lange gefackelt. Haustiere oder Kinder, da machten sie keinen Unterschied. Wenn du Glück hattest, setzte es nur ein paar Ohrfeigen, sonst zogen sie den Gürtel aus der Hose und jagten dich um den Tisch herum. Mein Vater verprügelte mich, weil er von seinem Vater verprügelt worden war, und der von seinem.«
»Aber du hast mich nie verprügelt.«
»Ich brachte es einfach nicht fertig, ich war immer schon anders als dein Großvater. Nicht so stark.«
»Glaubst du wirklich, das ist eine Frage der Stärke? Vielleicht wolltest du einfach nicht so sein wie er.«
»Hm, ich weiß nicht. Jedenfalls habe ich es nie über mich gebracht. Ein paar Klapse auf den Hosenboden habe ich dir manchmal schon verabreicht, aber das hat mir selbst mehr weh getan als dir.«
»Daran kann ich mich gar nicht erinnern. Was hatte ich denn angestellt?«
[226] »Du hast deiner Mutter widersprochen… wenn ich mich recht erinnere.«
»Abgesehen von den Prügeln, welche Erinnerungen hast du noch an Opa?«
»Dass er stark war, immer arbeitete und nicht viel Zeit für mich hatte. Dafür hat er mal einen Minilieferwagen für mich gebaut, mit Fenstern aus echtem Glas und batteriebetriebenen Rücklichtern, die richtig aufleuchteten. Aber mit uns geredet hat er kaum.«
»Wie meinst du das?«
»Auf der Straße redete er immer mit jedem, er war brillant, konnte richtig aufdrehen, aber zu Hause war er immer einsilbig. Mit mir sprach er praktisch überhaupt nicht. Wenn ich mit ihm allein war, konnte es passieren, dass er stundenlang kein Wort sagte, als wäre ich gar nicht da. Er sprach nur mit mir, wenn er wütend auf mich war oder um mir eine Strafpredigt zu halten.«
»Und was sagte er dann?«
»Das Übliche, ich solle froh sein, dass ich nicht so ein Leben führen müsse wie er, der schon als Kind arbeiten gehen musste, ich hätte doch immer alles bekommen und könne ein schönes Leben führen, dank seiner Opfer. Damals, als er angefangen habe zu arbeiten, habe er einen Liter Milch als Tageslohn bekommen. Ich solle endlich aufwachen und lernen, wie die Dinge laufen, sonst würde nie was aus mir werden. Immer sagte er, ich sei bei allem zu langsam und würde es nie zu etwas bringen. Und er hat recht behalten, mein Leben ist wirklich genau so verlaufen, wie er es immer vorhergesagt hat.«
[227] »Kommt auf den Standpunkt an. Vielleicht hättest du einfach ein bisschen mehr Ermunterung gebraucht.«
»Ja vielleicht, aber am Ende ist es genau so gekommen, er hatte recht. Ich habe in allem versagt, und wenn du mir nicht mit Geld ausgeholfen hättest, weiß ich nicht, wie wir durchgekommen wären.«
»Aber Papa, für mich ist es das schönste Geschenk, wenn ich dir einen Gefallen tun kann… egal was, selbst so eine Kleinigkeit, wie dich heute
Weitere Kostenlose Bücher