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Zeit, gehört zu werden (German Edition)

Zeit, gehört zu werden (German Edition)

Titel: Zeit, gehört zu werden (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Amanda Knox
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verschlossen, die nicht mit dem Fall zu tun hatten – war so still, dass man eine Stecknadel hätte fallen hören. Der Tisch meiner Partei stand hinten auf der rechten Seite. Der Tisch für Raffaeles Anwälte war neben unserem. Rudy Guede sollte mit seinen Anwälten hinter Raffaeles Anwälten sitzen. Doch am ersten Tag war ich als Einzige der drei Angeklagten anwesend.
    Erleichtert, dass der Raum nicht voller Menschen war, setzte ich mich und wartete auf den Richter. Dann gingen die Doppeltüren, durch die ich hereingekommen war, wieder auf, und die Familie Kercher trat ein.
    Mein erster Gedanke war nicht: Die halten mich für eine Mörderin . Vielmehr: Merediths Eltern? Endlich lerne ich sie kennen .
    Ich fragte Carlo, ob ich ihnen wohl guten Tag sagen dürfte. Er erkundigte sich bei deren Anwalt, kam wieder zurück und sagte: »Maresca hat gesagt: ›Auf gar keinen Fall.‹ Jetzt ist nicht der richtige Zeitpunkt dafür.«
    Ob es den jemals geben wird?
    Ich wusste, diesmal musste ich auf meine Anwälte hören, aber ich wartete noch immer auf einen Augenblick, in dem sich unsere Blicke begegneten, um der Familie mein Mitgefühl zu vermitteln.
    Als ich versuchte, ihre Aufmerksamkeit auf mich zu lenken, funkelten sie mich wütend an, was mir wie ein Schlag ins Gesicht vorkam. Das empfand ich als demütigend. Merediths Mutter hatte eine harte und zugleich sorgenvolle Miene.
    Ich war am Boden zerstört. Schon lange hatte ich mich darauf gefreut, sie kennenzulernen. In Gedanken hatte ich immer wieder aufs Neue einen Beileidsbrief entworfen, es aber nie fertiggebracht, ihn zu Papier zu bringen. Jetzt kam ich mir dumm vor. Wieso hatte ich ihre Reaktion nicht vorhergesehen? Warum bist du so überrascht? Was denkst du denn, worum es hier die ganze Zeit ging? Mein Kummer über Merediths Tod und mein Mitgefühl für ihre Familie hatten mich davon abgehalten, weiter zu denken. Natürlich hassen sie dich, Amanda. Die halten dich für schuldig. Das ist ihnen seit Monaten suggeriert worden .
    An diesem ersten Tag ging es hauptsächlich um verfahrenstechnische Dinge. Guedes Anwälte stellten gleich zu Beginn den Antrag auf ein verkürztes Verfahren. Ich hatte keine Ahnung, dass das italienische Rechtssystem diese Möglichkeit bot. Carlo hatte mir gesagt, es spare der Regierung Geld. Die Entscheidung des Richters basiert in dem Fall ausschließlich auf Indizien. Keine Zeugen werden aufgerufen. Der Angeklagte profitiert davon, denn sollte er für schuldig befunden werden, fällt das Strafmaß um ein Drittel geringer aus.
    Guedes Anwälte mussten erkannt haben, dass er in einem getrennten Verfahren besser wegkam, da die Staatsanwaltschaft darauf aus war, uns den Mord anzuhängen. Das während der Ermittlungen gesammelte Beweismaterial deutete auf seine Schuld hin. Seine DNA war überall in Merediths Zimmer verteilt, an ihrem Körper, an ihrer Intimwäsche und ihrer Handtasche. Er hatte seinen Handabdruck in ihrem Blut am Kissenbezug hinterlassen. Er war ins Ausland geflohen. Die Staatsanwaltschaft nannte seine Geschichte, er sei »zufällig« in der Villa und dennoch nicht am Mord beteiligt gewesen, »absurd« – auch wenn sie seinen Anschuldigungen gegen Raffaele und mich Glauben schenkte. Wir konnten nur hoffen, das umfangreiche Beweismaterial gegen ihn würde sie zu der Einsicht bringen, dass Raffaele und ich nicht beteiligt waren.
    Ich schätzte Guede genauso ein wie Merediths Familie mich. Als ich ihn in einer anschließenden Verhandlung sah, dachte ich wütend: Du! Du hast Meredith umgebracht!
    Er sah nicht aus wie ein Mörder. Er trug Jeans und Sweater. Seine Haut fing das Licht ein. Man konnte sich kaum vorstellen, dass er Meredith den Hals aufgeschlitzt hatte. Aber wenn er es nicht getan hatte, wäre seine DNA nicht überall in Merediths Zimmer verteilt gewesen. Und er hätte nicht gelogen, was Raffaele und mich betraf. Außerdem fiel mir auf: Er wollte mich nicht ansehen.
    Ich war erleichtert, als Raffaele am zweiten Verhandlungstag auftauchte. Er lächelte, sobald er mich sah, als könnte er es nicht unterdrücken. Nach fast einem Jahr der Trennung war mein zweiter Eindruck derselbe wie der erste: Raffaele war ehrlich und intelligent – und selbst mit schulterlangem Haar sah er noch immer so gut aus wie damals, als ich ihn im Konzertsaal traf. Zu wissen, dass es ihn so viel gekostet hatte, mein Freund zu sein, bedrückte mich. Egoistischerweise war ich dankbar, dass von allen Menschen in Perugia er derjenige war, mit dem

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