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Zeit, gehört zu werden (German Edition)

Zeit, gehört zu werden (German Edition)

Titel: Zeit, gehört zu werden (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Amanda Knox
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kamen, wenn sie aufgebracht waren. Ich befürchtete, dass diese Verbindung verlorengegangen war. Ich hatte Angst, dass meine Familie mir gegenüber nicht mehr ehrlich wäre, nur um mich nicht zu verletzen.

    Bis auf den vice commandante Argirò hatten Männer nur selten Zugang zum Frauentrakt. Eine Ausnahme bildeten die Arbeiter, die jeden Freitag kamen, um Reparaturen an Rohrleitungen und an der Elektrik vorzunehmen.
    Als ich bei Cera untergebracht war, sagte ihr Luigi, der diensthabende Wärter, er finde mich süß. Er blieb oft stehen und plauderte. Einmal saß er auf meinem Bett und winkte seine Arbeiter herein, um ihre Zigarettenpause in unserer Zelle zu verbringen.
    Am 4. Juli war die Dusche in meiner neuen Zelle verstopft. Ich wusste nicht, was »Abfluss« auf Italienisch heißt, und sagte daher: »Das Loch in der Dusche lässt das Wasser nicht durch.«
    »Welches Loch?«, fragte Luigi.
    Ich war allein – Pica und Falda waren bei ihrer Gefängnisarbeit –, und Luigi folgte mir ins Bad. Sobald die Tür zu war, legte er den Arm um meine Taille, zog mich an sich und beugte sich vor, um mich zu küssen.
    Ich duckte den Kopf und versteifte mich, als wäre mir ein Stahlseil an die Wirbelsäule geklemmt worden. Irgendwie gelang es mir, mich aus seinem Griff zu befreien. Ich taumelte aus dem Bad, setzte mich auf mein Bett und zog zitternd die Knie an die Brust.
    Er schaute mich nicht an, als er aus dem Bad kam, murmelte nur, dass seine Männer die Dusche reparieren würden, und ging.
    In mir brodelte es vor Ekel, Mutlosigkeit und Angst. Ich wusste, dass ich es niemandem sagen konnte. Luigi könnte diesen Vorfall gegen mich verwenden. Wenn er mich nun als Lügnerin bezichtigte? Oder sagte, ich habe ihn angemacht, sei sexbesessen – wie die Staatsanwaltschaft behauptete? Niemand würde mir glauben.
    Ich ging ans Fenster und weinte – nicht, weil ich traurig war, sondern tiefe, dunkle Wut empfand. Menschen, die im Fernsehen etwas über mich sagten, waren etwas anderes als das Gefühl, ohnmächtig gegen eine Wand gedrückt zu werden.
    Der unerwünschte Annäherungsversuch passierte fünf Tage vor meinem einundzwanzigsten Geburtstag. Das ist also das Geschenk, das mir das Gefängnis zu bieten hat, dachte ich zynisch. Eine Mahnung an meine Hilflosigkeit .
    Meine Mutter und Deanna kamen mich an dem Tag besuchen, als ich einundzwanzig wurde. Sie sangen Happy Birthday, aber Kuchen mitzubringen war nicht erlaubt. »Keine Sorge, Amanda«, sagte meine Mutter und gab sich möglichst optimistisch. »Wir feiern erst wieder, wenn du zu Hause bist. Und ich bin mir sicher, das wird bald sein.«
    Ich brach in Schluchzen aus, als ich meine Mutter und Deanna zum Abschied umarmte. Kaum hatte ich mich wieder gefasst, als man mich erneut ins Parterre rief.
    Raffaele hatte mir einen Riesenstrauß weißer Lilien geschickt. Die Wärterinnen schüttelten den Kopf und kicherten darüber, als hätten sie so etwas Absurdes noch nie gesehen. Ich griff nach der Vase, doch die Wärterin sagte: »Häftlinge dürfen keine Blumen haben.«
    Vermutlich war das auch ein Versteck für Drogen.
    Nichts linderte meinen Schmerz an dem Tag. Seit ich klein war, hatte ich immer davon geträumt, älter zu sein, hatte die Jahre gezählt, bis ich Teenager sein würde, dann wieder bis zu dem Tag, an dem ich endlich erwachsen wäre. Ein Jahr zuvor, als ich zwanzig wurde – kurz bevor ich nach Italien aufbrach –, sagten alle in meiner Familie: »Der Geburtstag im nächsten Jahr wird richtig gefeiert.«
    Stattdessen schwitzte ich im Gefängnis und lernte von den anderen Frauen Strategien, wie man sich Kühlung verschafft. Wir duschten oft kalt, machten uns immer wieder die Haare nass und tränkten Bettlaken, die wir vor die Gitterfenster hängten – in dem vergeblichen Versuch, jede noch so kleine heiße, trockene Brise abzukühlen, die hereinwehen könnte.
    Das alles geschah, während Luciano und Carlo die Verteidigung für mein Vorverfahren aufbauten. Sie hatten nicht alles, was sie benötigten, um den Fall vollständig zu lösen – Merediths DNA am Messer und meine »blutigen« Fußspuren waren noch offene Fragen.
    Zwei Tage vor Beginn des Vorverfahrens erhielten wir eine Nachricht, die ermutigend und niederschmetternd zugleich war. Polizeiliche Ermittler verrieten, dass sie einen blutigen Abdruck der Mordwaffe auf Merediths Bettlaken gefunden hatten, was deutlich machte, dass die Tatwaffe nicht das sechzehn Zentimeter lange Messer war, wie die

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