Zeit, gehört zu werden (German Edition)
Chor in Gang. »Verdammte infame .«
Infame bedeutet niederträchtig, das schlimmste Etikett, das man im Gefängnis haben kann. Bestenfalls wird man geächtet. Im schlimmsten Fall wird man von anderen Insassinnen drangsaliert.
Wie sich herausstellte, war Wilma in diesem kleinen Kreis von Häftlingen eine Geächtete. Ich kannte Wilmas Geschichte nicht, aber sie tat mir leid. So wie in der Highschool, als ich mit der weniger angesagten Gruppe abhing, stellte ich mich instinktiv auf ihre Seite. Stundenlang hörte ich mir ihr Gejammer an, wie traurig und verwirrt sie sei. Eines Tages sagte sie: »Amanda, kannst du mir erklären, warum mich alle hassen?«
Inzwischen hatte ich so viele Gerüchte mitbekommen, dass ich es mir vorstellen konnte. »Weil du hinter ihrem Rücken über Menschen herziehst und andere Häftlinge bei den Wärterinnen verpetzt«, erklärte ich. »Vielleicht kannst du dein Verhalten ändern, und die Leute werden dich mit der Zeit mögen.«
Genau wie in der Highschool .
Ich rechnete nicht mit ihrem Gefühlsausbruch bei der socialità an jenem Abend. Wilma schrie: »Ihr alle redet schlecht über mich.«
Eine andere Gefangene kam zu mir und wollte wissen: »Warum hast du Wilma gesagt, dass alle sie hassen?«
Ich antwortete: »Weil es doch stimmt, oder?«
»Ja, aber du sollst nicht mit ihr reden! Warum hast du dich auf ihre Seite geschlagen?«
Wilmas Verhalten unterschied sich nicht sehr von dem anderer Insassinnen – die meisten waren manipulierend und inszenierten gern Dramen –, aber sie war nicht so klug, das zu erkennen und Loyalität mit den anderen Frauen zumindest vorzutäuschen. Ihre Aktionen waren leicht durchschaubar.
Raffaele wurde am selben Tag angeklagt wie ich. Doch mich trieb die Frage um, wie ich diese neue, größere Gefängniswelt bewältigen sollte, sodass ich über den eigentlichen Prozess hinaus nicht oft an ihn gedacht hatte. Nur wenige Tage nach unserer Anklageschrift erreichte mich ein Umschlag mit seinem Namen auf der Rückseite. Ich hatte seine Handschrift noch nie gesehen, und im ersten Moment vermutete ich einen gemeinen Scherz dahinter.
Sobald ich den Brief las, wurde mir klar, dass er echt war. Ich war erschüttert, dass Raffaele mir jetzt schrieb. Nach Monaten des Schweigens, nach seinen Kommentaren in der Presse, mit denen er sich von mir distanzierte, hatte ich mich verraten gefühlt.
Er schrieb, er habe sich danach gesehnt, Kontakt zu mir aufzunehmen, doch seine Anwälte und seine Familie hätten es ihm nicht erlaubt. Alle seien verwirrt und verängstigt gewesen, als wir festgenommen wurden, aber er habe erkannt, dass es ein Fehler gewesen sei, mich im Stich zu lassen. »Verzeih«, schrieb er. »Du bedeutest mir noch viel. Ich denke die ganze Zeit an dich.«
Jetzt konnte ich ihn verstehen. Meine Anwälte hatten mir dieselben strikten Anordnungen erteilt. Sein Brief war eine Beruhigung für mich. Es war kein Liebesgeplänkel, und das gefiel mir. In meinen Augen waren wir kein Paar mehr. Jetzt waren wir durch unsere Unschuld verbunden. Es war eine Erleichterung zu wissen, dass wir diesen Kampf gemeinsam durchstanden.
Am nächsten Morgen schrieb ich ihm zurück.
Ich machte deutlich, dass ich keine romantische Beziehung mehr wollte, wünschte ihm alles Gute in der Hoffnung, dass es ihm gutgehe. Ich wusste, dass ich nicht über den Prozess schreiben sollte; daher teilte ich ihm nur mit, ich sei optimistisch, dass unsere Anwälte die Staatsanwaltschaft widerlegen würden.
Mein Briefwechsel mit Raffaele war zwar beruhigend, doch in jenem Sommer erhielt ich einen weiteren Brief, der mich fertigmachte, denn er führte mir wieder einmal vor Augen, wie sehr meine Lage meine Familie in Mitleidenschaft zog.
Meine jüngste Schwester Delaney, neun Jahre alt, schrieb mir: »Liebe Amanda, vor ein paar Tagen war ich mit Mom, Dad, Ashley und Deanna im Schwimmbad. Ein Mädchen kam und fragte, ob das meine Schwestern seien. Ich sagte: ›Ja, aber da gibt es auch noch Amanda.‹
Das Mädchen sagte: ›Die Schwester zählt nicht.‹
Das hat mich so traurig gemacht. Was soll ich denn tun, wenn jemand etwas Gemeines über dich sagt?«
Delaneys Brief hatte zwei Wochen gebraucht, bis er mich erreichte. Meine Antwort wäre erst in weiteren zwei Wochen bei ihr. Ich war so niedergeschlagen wie zu Beginn meiner Gefängniszeit.
Dennoch bedeutete es mir sehr viel, dass sie mich um Rat fragte. Mir als der Ältesten war es wichtiger als alles andere, dass meine Schwestern zu mir
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