Zeit, gehört zu werden (German Edition)
sagte sie. »Es geht darin um Cera.«
»Sie wissen doch, dass ich keinen Journalisten schreibe!«
Die Inspektorin drehte die Zeitung um, sodass ich den Artikel lesen konnte. Der Reporter behauptete, meine Mutter interviewt zu haben; sie habe ihm Dinge erzählt, die ich angeblich gesagt hatte.
»Sie müssen Ihrer Mutter klarmachen, dass sie aufhören soll, über das Innenleben des Gefängnisses zu sprechen«, verlangte die ispettore streng.
»Das würde meine Mom nie tun!«, rief ich in schrillem Ton. »Sie gibt nur Interviews, um darüber zu reden, dass ich unschuldig bin. Sie würde nie etwas aus unseren Privatgesprächen ausplaudern.«
Der Artikel enthielt jedoch lauter Insiderinformationen. Sie hatten Ceras Namen und gewisse Details richtig dargestellt. Sie schrieben, Cera habe mich einmal geküsst, und nun hätte ich Angst vor weiteren sexuellen Belästigungen. Sie wussten, dass sie einen Putzfimmel hatte und mich nicht Kaffee kochen ließ, weil dabei Wasserflecken in der Spüle zurückblieben.
Jetzt war mir klar, weshalb meine Freundinnen mir aus dem Weg gingen. Ich war eine infame, wie Wilma. Die ispettore, die Wärterinnen und die Inhaftierten nahmen an, dass ich meine Mutter gebeten hatte, Journalisten zu erzählen, ich würde im Gefängnis belästigt und misshandelt – dass ich Cera verraten hatte, um in der Öffentlichkeit Sympathien zu gewinnen.
»Vielleicht hat eine Wärterin geredet«, sagte ich zur ispettore .
Sie sah mich finster an.
Wer außer ein paar Wärterinnen und meiner Familie weiß etwas über meine Gespräche?
Meine Anwälte erklärten es mir. »Ihre Gespräche mit den Eltern wurden abgehört«, sagte Carlo. Die Anklage hatte die Abschriften der Gespräche zu den Beweismitteln genommen. Deshalb waren sie veröffentlicht worden.
Zu dem Zeitpunkt, als ich das erfuhr, sprach bereits keine Inhaftierte mehr mit mir. Ich bemühte mich, es mir nicht allzu sehr zu Herzen zu nehmen. Sie würden sowieso nicht zuhören, wenn ich es ihnen zu erklären versuchte. Drinnen und draußen wurden mir Dinge vorgeworfen, die ich nicht getan hatte.
Cera hatte mir selbst erzählt, wie verrückt, wie schrecklich Gefängnisinsassinnen zueinander sein konnten. Ich hatte ihr nicht glauben wollen und mir geschworen, dass ich nie so verbittert sein würde wie sie. Aber ich machte Fortschritte auf dem Weg dorthin. Ich kämpfte dagegen an, so zynisch und zornig zu werden, dass ich Gehässigkeit empfand, aber mein angeborener Optimismus erlahmte allmählich.
Obwohl ich nicht mehr von den anderen Häftlingen getrennt war wie in den Monaten zuvor, fühlte ich mich isolierter denn je. Die wenigen Frauen, die mich überhaupt noch zur Kenntnis nahmen, starrten mich bloß finster an.
Nur Fanta, die junge Roma, welche die Lebensmittel brachte, grüßte mich. Sie blieb oft bei meiner Zelle stehen und erzählte mir Witze.
Das Gefängnis ist ein harter, rauher Ort, wo die Menschen in erster Linie an sich selbst denken, und das Mitgefühl bleibt dabei häufig auf der Strecke.
Don Saulo war die einzige Person, der wirklich etwas an uns allen lag. Trotz der schrecklichen Behandlung, die mir die anderen Häftlinge angedeihen ließen, gab er mir den Glauben an die Menschheit teilweise zurück. »Es kommt nicht darauf an, was Sie in den Augen der Leute getan haben«, erklärte er mir. »Es zählt nur, was Sie wirklich getan haben. Wenn die Leute nicht sehen, wie anständig Sie sind, spielt das keine Rolle. Das einzig Wichtige ist Ihr Gewissen. Daraus müssen Sie Mut und Kraft schöpfen.«
Glücklicherweise konnte mein Stiefvater Chris seinen Job per Telearbeit von Perugia aus erledigen. Sein Rat, den anderen Insassinnen die Stirn zu bieten, war gut, wenn auch nicht praktikabel. Und er brachte mich zum Lachen. »Du musst dir ein paar ordentliche cojones wachsen lassen«, sagte er. »Deine sind ein bisschen zu klein. Du brauchst so ein paar richtig große und dicke.« Er bewegte die Hände, als würde er auf etwas herumdrücken.
Wir hielten an der Überzeugung fest, dass das Gesetz auf meiner Seite sein würde, wenn der Prozess begann. Ich war unschuldig. Ganz egal, wie falsch die Anklage alles auslegte, es würde niemals genug Beweise geben, um mich zu verurteilen. Und es war ein großer Trost für mich zu wissen, dass das Gefängnis nicht meine Welt war. Zu gegebener Zeit würde ich freigelassen werden. Dadurch konnte ich so lange überleben, wie es eben dauerte. Aber ich hätte nie gedacht, dass es Jahre dauern
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