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Zeit, gehört zu werden (German Edition)

Zeit, gehört zu werden (German Edition)

Titel: Zeit, gehört zu werden (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Amanda Knox
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Guede und einen ordnungsgemäßen Strafprozess für Raffaele und mich. Wir würden für die Verbrechen angeklagt werden, die sie uns unbedingt anhängen wollten.
    Nachdem der Richter sich zurückgezogen hatte, wurden wir jeweils in ein anderes leeres Büro im Gerichtsgebäude gebracht, um auf seine Entscheidung zu warten. Raffaele faltete eine Seite aus der Tageszeitung zu einer Blume, die mir von den Wärterinnen gebracht wurde. Aber ich konzentrierte mich auf Guede, der im Raum neben mir festgehalten wurde. Ich hörte, wie er mit den Wachen sprach, Witze riss und kicherte. Ich kochte vor Wut! Am liebsten hätte ich an die Wand geklopft und ihm zugerufen, er solle den Mund halten. Seine Lässigkeit brachte mich zur Weißglut. Ich dachte: Spürt das denn sonst keiner?
    Nach den ersten sechs Stunden der insgesamt zwölfstündigen Wartezeit durfte ich meine Anwälte sehen. »Dass der Richter sich so viel Bedenkzeit nimmt, ist ungewöhnlich«, sagte Carlo aufgeregt. »Wenn ihm die Entscheidung leichtfiele, hätte er sie bereits getroffen.«
    Carlos Optimismus färbte auf mich ab. Vielleicht ist der Richter so mutig einzusehen, wie absurd Hekuran Kokomanis wilde Geschichte war, und die Wahrheit in Sarah Ginos Fragen zu erkennen. O Gott, das dauert ja ewig. Es muss ein gutes Zeichen sein .
    Am späten Dienstagnachmittag, als der Himmel schon dunkel war, wurden wir wieder in den Gerichtssaal geführt. Ich konnte mich kaum auf den Beinen halten. Guedes Urteil verlas der Richter zuerst: der sexuellen Nötigung und des Mordes an Meredith Kercher für schuldig befunden und zu einer Haftstrafe von dreißig Jahren verurteilt.
    Das Urteil überraschte mich keineswegs – eine Sekunde lang war ich enorm erleichtert. Ich dachte: Er hat es getan. Der Richter trug es derart lustlos vor, dass er ebenso gut die Zutaten von einer Schachtel Kleieflocken hätte ablesen können. Meine Brust zog sich zusammen, als ich »dreißig Jahre« hörte. Nicht weil Guede mir leidtat. Ich hatte mich so sehr darauf konzentriert, ob man ihn nun für schuldig oder unschuldig befinden würde, dass ich nicht über sein Strafmaß nachgedacht hatte. Ich war einundzwanzig; dreißig Jahre waren mehr als meine bisherige Lebenszeit – viel mehr.
    Ich holte tief Luft.
    »Das Gericht ordnet an, dass Knox, Amanda und Sollecito, Raffaele der Prozess gemacht wird.«
    Ich brach zusammen und schluchzte hemmungslos. Ich hatte eine aufrichtige Bitte vorgebracht: »Ich sage Ihnen, ich bin unschuldig! Ich bitte um Entschuldigung für die Verwirrung, die ich angerichtet habe.«
    Der Richter glaubte mir nicht.
    Kaum war die Verhandlung beendet worden, führten die Wärterinnen mich auch schon hinaus.
    »Nicht weinen, Amanda«, rief Carlo. »Keine Bange. Es ist noch nicht vorbei. Im Prozess läuft es anders als im Vorverfahren. Beide Seiten bekommen Gelegenheit, die Zeugen zu befragen. Wir werden alles analysieren. Wir werden ihnen beweisen, dass sie sich irren.«
    Ich wünschte, er hätte recht. Aber ich dachte nur, wenn das Gericht mir diesmal nicht geglaubt hat, warum sollte es mir beim nächsten Mal glauben?

24
    Oktober–Dezember 2008
    I m Gefängnis gibt es stets mehr als nur eine Art von Stress.
    Dieser Satz wurde allmählich zu meinem Mantra.
    Ungefähr eine Woche vor dem Ende meines Vorverfahrens begann eine weitere traumatische Episode. Eines grauen Tages sah ich beim Training draußen ein paar Insassinnen, mit denen ich mich angefreundet hatte. »Hey!«, rief ich. »Guten Morgen!«
    Sie starrten mich böse an, ohne ein Wort zu sagen. Ich ging weg.
    Irgendwas stimmt da nicht, aber was? Was ist los?
    Nachdem ich ein paar einsame Runden gedreht hatte, konnten selbst meine Kopfhörer die schmerzhafte Stille nicht mehr aussperren. Tränen liefen mir über die Wangen. Ich war so durcheinander, dass ich eigentlich nicht weitermachen konnte, aber aufhören wollte ich auch nicht – ich fürchtete mich davor, dass die Geschehnisse mich einholen würden, sobald ich stillstand.
    Schließlich riefen mich die Wärterinnen ins Büro der ispettore . Sie stand hinter ihrem Schreibtisch, eine rundliche Frau mittleren Alters mit kurzen, strähnigen, orange gefärbten Haaren, und zeigte auf den Corriere dell’Umbria, die aufgeschlagen vor ihr liegende Lokalzeitung. »Was haben Sie dazu zu sagen?«, wollte sie wissen.
    »Spiegare che cosa?«, fragte ich verblüfft. »Was soll ich erklären?«
    Ich sah, dass in der Schlagzeile etwas über mich stand.
    »Das ist ein Interview«,

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