Zeit, gehört zu werden (German Edition)
Metallkäfig für gefährliche Straftäter. O Gott , dachte ich, die werden mich in diesen Käfig stecken . Es war irrational, aber meine Nervosität ließ sich nicht mehr steigern. Ich hatte schreckliche Angst. Ich fühlte mich wie gelähmt.
Zu meiner ungeheuren Erleichterung steuerten mich die Wachen zu dem Tisch, an dem Carlo und Luciano Platz genommen hatten. Meine Anwälte und ich saßen ganz rechts; Raffaele war keine drei Meter entfernt am nächsten Tisch. Die Staatsanwaltschaft saß ganz links, mit den Zivilanwälten Patricks und der Kerchers an einem Tisch hinter ihnen.
In den Vereinigten Staaten werden Zivil- und Strafprozesse getrennt geführt. In Italien kombiniert man beides. Die Italiener sind offenbar davon überzeugt, dass ihre Richter und Schöffen das schon auseinanderhalten können – dieselben acht Personen fällen sämtliche Urteile. Überdies werden die Schöffen nicht auf Voreingenommenheit hin überprüft und auch nicht vor äußeren Einflüssen geschützt. Die Anklage warf Raffaele und mir fünf Straftaten vor: Mord, unerlaubtes Führen einer Waffe, Vergewaltigung, Diebstahl, Vortäuschung eines Raubs, sowie eine sechste – Verleumdung – nur mir. Die Kerchers, die glaubten, dass Raffaele und ich ihre Tocher getötet hatten, verklagten uns beide auf fünf Millionen Euro für jedes ihrer fünf Familienmitglieder als Entschädigung für den emotionalen Verlust und die Seelenqualen. Patrick Lumumba verklagte mich wegen Verleumdung. Der Eigentümer der Villa verklagte mich auf zehntausend Euro zum Ausgleich von Schäden und entgangener Miete.
Einige Beweismittel, darunter mein morgens um Viertel vor sechs abgelegtes Geständnis, in dem ich Patrick in meiner Konfusion als den Mörder bezeichnet hatte, waren nicht zugelassen worden. Zu jenem Zeitpunkt war ich nämlich schon offiziell zur Verdächtigen geworden und hätte das Recht auf einen Anwalt gehabt. In den Zivilverfahren konnte dasselbe Beweismittel jedoch vor der Schöffenbank erörtert werden, und das wurde es auch.
Im italienischen Rechtssystem bekommt jeder Richter und Schöffe vor der Urteilsverkündung Gelegenheit zur Stellungnahme, wie die Strafe seiner Meinung nach ausfallen soll. Das Spektrum beginnt bei null und geht bis lebenslänglich. Anders als in den Vereinigten Staaten, wo die Entscheidung einstimmig getroffen werden muss, ist in Italien nur ein Mehrheitskonsens erforderlich – die Maximalstrafe muss von mindestens fünf Schöffen unterstützt werden.
Ich sank in einen großen, plüschigen Stuhl, eingeklemmt zwischen Carlo und meine vom Gericht gestellte Dolmetscherin, die hinzugezogen worden war, weil der Prozess in italienischer Sprache geführt wurde. Wir erhoben uns, als die Gerichtsdienerin mit den Worten »la corte« – »das Gericht« – den Beginn der Verhandlung ankündigte. Dankbar stellte ich fest, dass ich mit der Ankunft der Richter und Schöffen nicht mehr im Brennpunkt der Aufmerksamkeit stand.
Ich ging mit gemischten Gefühlen in diesen Prozess. Das Vorverfahren hatte meine Hoffnung, freigelassen zu werden, zunichtegemacht, und nun fürchtete ich mich davor, was als Nächstes kommen konnte. Doch mein starker angeborener Optimismus, dem mit Logik oder Medienprognosen nicht beizukommen war, half mir, meiner Verzweiflung Herr zu werden.
Carlo und Luciano hatten mich auf einen langen Prozess vorbereitet, aber auch das tat ich ab. Sicherlich würde der Prozess schnell vorbei sein, und Raffaele und ich würden für unschuldig befunden werden, weil wir ja schließlich unschuldig waren. Und das Gericht war zur Gerechtigkeit verpflichtet. Ich hatte vierzehn Monate im Gefängnis gesessen. Meinem eigenen Seelenheil zuliebe konnte ich nicht glauben, dass ich auch nur noch ein einziges Mal zwischen Gerichtssaal und Zelle hin- und hertransportiert werden musste.
Ich war naiv. Schon nach ein paar Sätzen merkte ich, dass ich von der Dolmetscherin nur die Kurzfassung zu hören bekam. Das einzig Gute am Gefängnis war, dass sich mein Italienisch inzwischen erheblich verbessert hatte und ich sogar in dieser Sprache denken konnte. Ich beschloss, auf die Dienste der Dolmetscherin zu verzichten. Was ich nicht verstand, konnten mir meine Anwälte erklären.
Als Erstes kam das Motiv zur Sprache. Die simple Geschichte der Anklage war ein reines Hirngespinst, klang aber für die Richterbank offenbar glaubwürdig. Im Lauf des Verfahrens wurde sie durch allerlei Verzierungen ergänzt – Meredith war klüger, hübscher,
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