Zeit, gehört zu werden (German Edition)
Mordnacht bei der Villa gewesen zu sein, und als wir sie deswegen zur Rede gestellt haben, hat sie jemand anderen beschuldigt.«
Es war nahezu unerträglich, sich anhören zu müssen, wie sie das Verhalten der Polizei mir gegenüber als liebenswürdig und fürsorglich beschrieb. Sie verteidigte alles, ohne mit der Wimper zu zucken. Ich schaffte es nur mit Müh und Not, nicht aufzuspringen und zu schreien: »Nein! So ist es ganz und gar nicht gewesen!« Aber meine Anwälte hatten mir eindringlich davon abgeraten, etwas zu sagen – da ich bereits der Lüge bezichtigt worden war, würde mir niemand etwas glauben, schon gar nicht, wenn es um die Polizei ging.
Richter Massei fragte Ficarra, ob ich mit ihr englisch oder italienisch gesprochen hätte.
»Italienisch«, antwortete Ficarra. »Ich wiederhole, sie spricht Italienisch. Mit mir hat sie nur italienisch gesprochen. Ich verstehe kein Wort Englisch.«
Ich erinnerte mich an mein Verhör, als die Polizisten mich angeschrien hatten, ich solle aufhören zu lügen und ihnen endlich sagen, wer Meredith getötet hatte, sonst brächten sie mich für dreißig Jahre hinter Gitter. Das war immer noch ihr Ziel. Ich hatte schreckliche Angst, dass keiner außer mir sie durchschaute.
Die Polizisten waren nicht die Einzigen, deren Aussagen mich verurteilten. Eine der großen Ironien des Verfahrens bestand darin, dass auch Rudy Guede, ein verurteilter Mörder, Macht über mein Leben bekam.
In Capanne hieß es, Guede habe im Gefängnis zu Gott gefunden, und als er zum Zeugenstand ging – weniger großspurig und ungepflegter als während des Vorverfahrens –, keimte in mir neue Hoffnung auf. Vielleicht drückte ihn das Gewissen. Ich stellte mir vor, dass er Raffaele und mich ansehen und geradeheraus sagen würde, keiner von uns sei beteiligt gewesen. Aber nach seiner Vereidigung sagte Guede lediglich sechs Worte: »Riservo il diritto di non rispondere« – »Ich mache von meinem Aussageverweigerungsrecht Gebrauch«.
Dann trat er ab. Er sah weder mich noch sonst jemanden an, als er durch die metallene Doppeltür im hinteren Teil des Gerichtssaals hinausgeführt wurde, flankiert von Wachen, so wie Raffaele und ich jedes Mal. Seine Miene war ausdruckslos und gleichgültig.
Guede wusste, dass sein Schweigen uns die Freiheit kosten konnte. Aber es gab keine Möglichkeit, ihn zu zwingen, die Wahrheit zu sagen. Menschen haben das Recht, sich nicht selbst zu belasten – und indem er sich schützte, trug er zu unserer Verurteilung bei.
26
März–Juli 2009
N achdem ich des Mordes angeklagt worden war, las man eine neue Bedeutung in alles hinein, was mit mir zu tun hatte. Ein Knutschfleck an meinem Hals wurde zu einem Kratzer, den Meredith mir in ihren letzten, verzweifelten Augenblicken zugefügt hatte. Ein ungeschickter Wortwechsel über eine schmutzige Toilette wurde zum Mordmotiv. Freunde, die ich mit nach Hause brachte, wurden zu geheimnisvollen Liebhabern von zweifelhaftem Charakter. Rudy Guedes beiläufige Bemerkung gegenüber den Jungs von unten, ich sei süß, wurde zum Beweis, dass er alles tun würde, um meine Aufmerksamkeit und Anerkennung zu erlangen.
Fremde waren ebenso schnell mit ihren Urteilen zur Hand wie Leute, die mich kannten. Der gewaltige Medienrummel hatte zur Folge, dass die Menschen in Perugia – eigentlich sogar in ganz Italien – mehrmals pro Woche mein Foto sahen. Genauso oft hörten sie, wie die Staatsanwaltschaft mich heruntermachte.
Einer der Hauptzeugen der Anklage behauptete, er habe mich und Raffaele am Abend des 1. November gemeinsam in der Stadt gesehen; ein anderer wollte uns am Morgen des 2. November gesehen haben – zu einer Zeit, als wir in Raffaeles Wohnung gewesen waren, wie wir ausgesagt hatten. Ein Mann war sicher, dass er uns an Halloween zusammen mit Rudy Guede gesehen hatte, ein Indiz dafür, dass wir uns kannten. Ich wusste mit hundertprozentiger Sicherheit, dass er uns nicht gesehen hatte.
Es war nicht nötig, dass auch nur einer dieser Leute recht hatte. Es genügte, wenn sie Zweifel säten, wenn sie den Eindruck erweckten, dass ich log. Sie mussten nur in geringem Maße überzeugend sein.
Dieser Gedanke – dass sie die Schöffen und die Richter beeinflussen könnten – flößte mir eine Heidenangst ein.
Marco Quintavalle, der einen Laden in der Nähe von Raffaeles Wohnung besaß, erzählte dem Gericht, er habe am Freitag, dem 2. November, um Viertel vor acht ein Mädchen darauf warten sehen, dass der Laden aufmachte.
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