Zeit, gehört zu werden (German Edition)
jeweilige Bild selbst war das Wissen, dass es meine Freundin zeigte.
Während der gesamten Vorführung lieferte uns die Anklage eine Einführung ins menschliche Verdauungssystem. Wir erfuhren, dass es ungefähr zwei bis vier Stunden braucht, um eine Mahlzeit zu verdauen. Merediths Freundinnen hatten gesagt, sie hätten gegen sechs Uhr abends mit dem Essen begonnen. Da die Nahrung noch nicht in Merediths Dünndarm angelangt war, sagten meine Anwälte, sie sei zwischen neun und halb zehn gestorben – spätestens um zehn.
Bei jedem späteren Todeszeitpunkt wäre ihr Mageninhalt im Dünndarm zu finden gewesen. Merediths Freundinnen zufolge war sie gegen neun Uhr nach Hause gegangen. Die Festplatte in Raffaeles Laptop zeigte, dass wir um Viertel nach neun aufgehört hatten, uns Die fabelhafte Welt der Amélie anzuschauen, und auf Stopp geklickt hatten – die letzte »menschliche Interaktion« mit dem Computer. Diese knappe Frist gab uns ein Alibi, das nicht einmal die Anklage zu widerlegen versuchte.
Stattdessen wischte sie die Tatsachen einfach vom Tisch und stützte sich auf Capezzalis Aussage.
Auf Basis des Schreis kam sie zu dem Schluss, dass Meredith um halb zwölf gestorben war. Obwohl Merediths Verdauung auf einen früheren Todeszeitpunkt schließen ließ, war die Anklage auf diesen Schrei fixiert.
Ihrem Mageninhalt zufolge war Meredith um zehn Uhr ermordet worden, aber die Staatsanwälte erfanden ein Szenario, in dem Meredith zwischen halb zehn und halb zwölf allein zu Hause gewesen war. Ihren Ausführungen zufolge zieht sich der Schließmuskel zwischen Magen und Dünndarm im Moment eines Traumas zusammen, und die Verdauung kommt zeitweilig zum Erliegen. Unbeantwortet blieb, welches Trauma Merediths Verdauung in diesen zwei Stunden unterbrach – denselben zwei Stunden, in denen sie sich der Staatsanwaltschaft zufolge mit ausgezogenen Schuhen auf ihrem Bett entspannt und einen Aufsatz geschrieben hatte, der am nächsten Morgen fertig sein sollte. Wie grotesk! Die Anklage ignorierte die elementare menschliche Physiologie und bestimmte Merediths Todeszeitpunkt anhand der Uriniergewohnheiten einer alten Frau.
Noch schwächer wurde ihre Theorie durch Capezzali selbst. Sie sagte aus, am Morgen, nachdem sie den Schrei gehört hatte, seien ein paar Kinder vorbeigekommen, während sie ihre Wohnung geputzt habe, und hätten ihr erzählt, in der Villa sei ein Mädchen ermordet worden. Als sie dann gegen elf Uhr vormittags aus dem Haus gegangen sei, um Brot zu kaufen, habe sie Plakate mit Merediths Gesicht am Zeitungskiosk gesehen.
Das Problem: Merediths Leiche wurde am 2. November erst nach ein Uhr mittags entdeckt. Als Mignini Capezzali fragte, ob sie den Schrei vielleicht an Halloween gehört habe und nicht am 1. November, blaffte sie: »Ich erinnere mich nicht mehr an diese Dinge, diese Stunden, diese Dinge. Ich erinnere mich nicht mehr daran.«
Ich war sicher, dass die Schöffen einer Person, die sagte, sie könne sich nicht erinnern, garantiert keinen Glauben schenken würden.
Antonio Curatolo war ein graubärtiger Obdachloser, der im Gerichtssaal so eingemummelt erschien, als befände er sich auf der Parkbank, wo er den größten Teil seines Lebens verbrachte. Wie Quintavalle, der Ladenbesitzer, hatte sich Curatolo erst Monate nach unserer Verhaftung gemeldet – und auch das nur auf das Drängen eines Lokalreporters hin. Aber die Medien kündigten ihn als Staatsanwalt Migninis »super testimone« an – als seinen »Superzeugen«.
Ich war überrascht und entmutigt gewesen, als ich zum ersten Mal hörte, dass ein Obdachloser Raffaele und mich am 1. November auf dem Basketballplatz gesehen haben wollte – noch so eine Geschichte, die die Polizei den Medien zugespielt hatte, lange bevor der Prozess begann. Solche absurden Behauptungen tauchten immer wieder aus heiterem Himmel auf und erweckten in mir das Gefühl, unter Dauerbeschuss zu stehen. Und ich fühlte mich auch kein bisschen besser, als Luciano mir in einer Pause zuflüsterte: »Er ist Migninis persönlicher ›Serienzeuge‹.« Wie sich herausstellte, war dies das dritte Verfahren, in dem Mignini ihn einsetzte.
Curatolo zufolge hatten Raffaele und ich angeregt geplaudert oder gestritten und dabei hin und wieder über den Zaun in Richtung der Villa geblickt. Wann war das gewesen? Am 1. November von halb zehn Uhr abends bis kurz vor Mitternacht, antwortete Curatolo. Sein Gefasel versetzte mich in Erstaunen, und ich fand es frustrierend, dass das
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