Zeit, gehört zu werden (German Edition)
»Ein Hut und ein Schal verdeckten einen großen Teil ihres Gesichts, aber mir fiel auf, wie blass sie war und was für blaue Augen sie hatte … Sie ging zu dem Bereich hinten links im Supermarkt, wo die Reinigungsmittel stehen. Ich weiß nicht mehr, ob sie etwas gekauft hat.«
Als er ein paar Tage später mein Foto in der Zeitung sah, erinnerte er sich jedoch genau. »Ich habe sie wiedererkannt, es war dasselbe Mädchen«, sagte er.
Auf die Frage, ob das Mädchen im Gerichtssaal sei, zeigte Quintavalle auf mich. »Sie ist es«, sagte er. »Ich bin mir sicher.«
Ich war einmal in dem kleinen Laden gewesen, um Milch und Müsli zu kaufen. Ein einziges Mal. Im hinteren Teil, wo offenbar die Reinigungsmittel stehen, war ich nie.
Ich weiß nicht, wie es sich anfühlen würde, im Gerichtssaal »identifiziert« zu werden, wenn man schuldig ist, aber ich war unschuldig, und darum zuckte ich bei seinen Worten zusammen, als wäre ich geschlagen worden. Es war ein körperlicher Schmerz. Ich brauchte ein Maximum an Selbstbeherrschung, um sitzen zu bleiben. Im Gegensatz zu den Polizisten, die logen, um ihre Fehler zu kaschieren, glaubte der Ladenbesitzer, was er sagte. Würden die Schöffen es ebenfalls glauben?
Es lief darauf hinaus, wer glaubwürdiger war – er oder ich?
Als meine Verteidiger Quintavalle vernahmen, fragten sie ihn, warum er mit dieser Information nicht herausgerückt sei, als die Polizei unmittelbar nach unserer Verhaftung zu ihm gekommen war, um ihn zu befragen. Er sagte, daran könne er sich nicht erinnern. Er habe nicht in den Mordfall verwickelt werden wollen und sich erst auf Drängen eines Freundes – eines Journalisten – im August 2008 freiwillig gemeldet. Ich entspannte mich ein wenig. Die Schöffen würden erkennen, was wahr war und was nicht.
Die Medien erkannten es absichtlich nicht. »Ein neues Loch in Amanda Knox’ Alibi« und »Zeuge widerspricht Amanda Knox’ Darstellung«. Derartige Berichte machten meine Angehörigen und meine Freunde wütend. Fremde würden jedoch zweifellos denken: Na bitte, Amanda lügt schon wieder.
Nara Capezzali war eine Witwe Ende sechzig, die in einem Wohnblock hinter dem Parkplatz gegenüber unserer Villa wohnte. Sie sagte aus, sie habe zwischen elf und halb zwölf Uhr nachts einen Schrei gehört. »Ich habe eine Gänsehaut bekommen, um ehrlich zu sein«, sagte sie.
Sie konnte sich noch genau an die Zeit erinnern, weil sie allabendlich ein harntreibendes Mittel nahm und immer gegen elf Uhr aufwachte, um auf die Toilette zu gehen.
Bevor sie wieder eingeschlafen sei, sagte sie, habe sie jemanden die Metalltreppe neben dem Parkplatz hinauflaufen hören. »Fast im selben Moment« habe sie das Knirschen von Schuhen auf Kies aus der Richtung unserer Auffahrt vernommen. Was spielte es schon für eine Rolle, dass es keine Kiesauffahrt gab – sie bestand größtenteils aus festgestampfter Erde.
Die Verteidigung bezweifelte, dass jemand diese Geräusche über eine vielbefahrene Straße hinweg und durch geschlossene Fenster mit Doppelscheiben hätte hören können. Merediths Zimmer lag auf der Rückseite unseres Hauses, also in der entgegengesetzten Richtung von Capezzalis Wohnung. Aber die Anklage klammerte sich an ihre Darstellung, mit der Merediths ungefährer Todeszeitpunkt stand und fiel.
Anklage und Verteidigung waren sich nur in wenigen Dingen einig. Dazu gehörte, dass die Polizei kurz nach Auffinden der Leiche einen unverzeihlichen Fehler begangen hatte. Sie hatte den Gerichtsmediziner stundenlang daran gehindert, Merediths Körpertemperatur zu messen, und damit die beste Chance vertan, ihren Todeszeitpunkt zu bestimmen. Die zweite Möglichkeit – Merediths Mageninhalt zu analysieren – war weit weniger zuverlässig. Die dritte – Capezzalis Gedächtnis – war ganz und gar unzuverlässig.
Es gab viele schlimme Tage während meines Prozesses. Der schlimmste war der, an dem das Beweismaterial zur Feststellung von Merediths Todeszeitpunkt vorgelegt wurde. Der Richter hatte zum Schutz von Merediths Privatsphäre entschieden, dass die Presse und die Öffentlichkeit ihre Autopsiefotos nicht sehen durften. Deshalb mussten alle, die nicht unmittelbar am Prozess beteiligt waren, den Saal verlassen. Bilder von Merediths aufgeschnittenem Magen wurden auf eine Leinwand projiziert, wie man sie für Amateurfilme benutzt. Ich wusste, wenn ich hinschaute, würde ich genauso reagieren wie die Schöffin, die zur Damentoilette stürzte. Noch schrecklicher als das
Weitere Kostenlose Bücher