Zeit, gehört zu werden (German Edition)
nerven, aber damals hat es funktioniert.
Schließlich holte ich mein Tagebuch aus meiner Handtasche und kritzelte wahllos hinein, was mir gerade durch den Kopf ging – wie irreal das alles war und wie sehr ich wünschte, ich könnte einen Song über das abscheuliche, tragische Ereignis schreiben, einen persönlichen Tribut an Meredith. Ich dachte, Musik könnte mir – ebenso wie der Akt des Schreibens selbst – irgendwie helfen, mich besser zu fühlen. Später, als die Polizei mein Notizbuch konfiszierte und man den Inhalt an die Presse durchsickern ließ, betrachteten die Leute das als Beweis dafür, dass ich Merediths Tod bagatellisierte.
Weitere Indizien fanden sie in meinem Galgenhumor. »Ich komme um vor Hunger«, schrieb ich. »Und ich würde wirklich gern sagen, dass ich für eine Pizza einen Mord begehen könnte, aber das käme jetzt wohl nicht so gut an.«
In meinem Kopf polterten so viele Gedanken zugleich umher, dass ich aufschrieb, was mir gerade in den Sinn kam. Ich hatte nicht die Absicht, dieses Zeug irgendwem zu zeigen, sondern wollte mir nur ein wenig Erleichterung verschaffen. Aber so wie ich meinem Chef, Patrick, am Abend zuvor »Bis später« gesimst hatte, wurde mein Gekritzel wörtlich genommen – und das brach mir das Genick.
Als ich mein Notizbuch wegsteckte, war es früher Morgen. Die Polizisten legten keine Pause ein, um zu schlafen, und wir sollten es offenbar auch nicht tun. Raffaele und ich gehörten zur letzten Gruppe; zusammen mit Laura, Filomena, Giacomo und den Jungs von unten verließen wir um halb sechs die questura .
Die Polizisten gaben Raffaele und mir ausdrückliche Anweisung, um elf Uhr wieder in der questura zu erscheinen. »Pünktlich«, sagten sie.
Ich weiß nicht mehr, wer uns bei Raffaeles Wohnung abgesetzt hat. Aber ich erinnere mich durchaus, wie deutlich mir bewusst war, dass ich nirgendwo anders hinkonnte.
8
3. November 2007,
zweiter Tag
A ls Raffaele und ich am Samstag um elf Uhr zur questura zurückkamen, war der Warteraum leer. Einige von Merediths britischen Freundinnen flogen an diesem Tag nach Hause, zu erschüttert und verängstigt, um noch länger zu bleiben. Amy und Robyn waren um sieben Uhr morgens mit dem Bus zum Flughafen gefahren – ungefähr zu der Zeit, als ich endlich einschlief. Ich hätte mit ihnen fahren können.
Meine Mutter hatte mich in einem unserer Telefonate in der Nacht zuvor gefragt, ob sie mir ein Flugticket nach Seattle besorgen solle. »Nein«, hatte ich gesagt – und mich nicht umstimmen lassen. »Ich helfe der Polizei.«
Ich dachte nicht daran heimzufliegen. Weglaufen fand ich nicht richtig, und genau das wäre es für mich gewesen: weglaufen vor dem Erwachsensein. Ich wusste, dass Morde überall geschehen können – und auch geschehen –, und ich war fest entschlossen, mir von dieser einen blindwütigen Gewalttat nicht alles verderben zu lassen, wofür ich das ganze letzte Jahr so hart gearbeitet hatte. Mir gefielen meine Kurse an der Ausländeruniversität, und ich wusste, dass die Finanzen meiner Familie keine Verlängerung zuließen. Wenn ich nach Hause flog, gestand ich meine Niederlage ein. Und meine Abreise würde Meredith nicht zurückbringen.
Aber ich verstand, weshalb Merediths Freundinnen in Panik geraten waren. Mir ging es nicht anders. An diesem Morgen hatte eine Londoner Zeitung Merediths Mörder als »messerschwingenden Irren« bezeichnet. Er war noch immer auf freiem Fuß und nahm womöglich gerade andere Opfer aufs Korn, vielleicht sogar mich. Chris hätte mich gar nicht zu ermahnen brauchen, nach Möglichkeit niemals allein zu bleiben. Ich war schon so paranoid, dass ich Raffaele in seiner Einzimmerwohnung nicht aus den Augen lassen wollte. Als wir die Straße entlanggingen, schaute ich mich, obwohl Raffaele den Arm um mich gelegt hatte, immer wieder nervös um und vergewisserte mich, dass uns niemand folgte. Fuhr ein Auto vorbei, zuckte ich zusammen. Hatte der Mörder unser Haus beobachtet und gewartet, bis eine von uns allein war, um dann zuzuschlagen? Unwillkürlich fragte ich mich: Wäre ich gestorben, wenn ich am Donnerstagabend zu Hause gewesen wäre? Merediths Zimmer und meines waren nur durch eine dünne Holzfaserplatte getrennt. Warum war ich am Leben, während sie jetzt im Leichenschauhaus lag? Konnte ich das nächste Opfer sein?
Ich fand es ätzend, wie traumatisiert ich mich fühlte. Als meine Angehörigen, Freunde und das Akademische Auslandsamt der University of Washington sich der
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