Zeit, gehört zu werden (German Edition)
Reihe nach bei mir meldeten, bekam ich jedes Mal eine Version des folgenden Satzes zu hören: »O Gott, du musst solche Angst haben und so allein sein.« Ich wollte mir nicht eingestehen, dass sie recht hatten, dass das, was ich durchmachte, zu belastend war, um es allein bewältigen zu können. Das Letzte, was ich von meinen Eltern wollte – obwohl ich es wahrscheinlich am meisten brauchte –, war, dass sie mich wie ein Kind behandelten.
Ich glaubte, meinen Eltern und mir beweisen zu müssen – als ob meine gesamte Identität davon abhinge –, dass ich alles im Griff hatte, dass ich die Dinge auf erwachsene, verantwortungsbewusste Weise bewältigen konnte. Und so, wie ich ein paar schräge Ansichten über den Zusammenhang zwischen Gelegenheitssex und Erwachsenenstatus gehegt hatte, war ich auch davon überzeugt, dass ein Erwachsener wüsste, wie man allen Herausforderungen gerecht wurde, also auch, wie man sich angesichts der brutalen Ermordung einer Mitbewohnerin benahm. Es war nicht logisch, aber ich glaubte, dass ich aufgrund meiner Entscheidung, nach Perugia zu kommen, Merediths Tod – auch wenn ihn niemand hätte vorhersagen können – einfach hinnehmen musste. Ich ging damit um, als befände ich mich in einer unvorhergesehenen Lage und müsste nun mit den Folgen zurechtkommen.
Bei jedem Telefonat mit meinen Eltern verwendete ich meine ganze Kraft darauf, ihnen zu versichern, mit mir sei alles in Ordnung. Ich hatte meine Mutter nicht beunruhigen wollen, als ich nach einem Blick auf die Exkremente in der Toilette aus dem Haus gerannt war, und auch jetzt lief jedes Gespräch mehr oder weniger genauso ab. »Ja, ich bin wirklich müde, aber ich komme schon klar. Ich bin bei Raffaele, er kümmert sich sehr um mich, und meine Mitbewohnerinnen suchen eine neue Bleibe. Macht euch keine Sorgen, macht euch keine Sorgen, macht euch keine Sorgen.«
Wir haben keine herkömmliche Eltern-Kind-Beziehung, in der die Eltern darauf bestanden hätten, dass ich gegen meinen Willen nach Hause kam. Und damals glaubte ich an das, was ich ihnen erzählte. Rückblickend denke ich jedoch, dass ich mich zu sehr davor fürchtete, mir die Wahrheit einzugestehen; irgendwie hätte es bedeutet, dass ich versagt hatte.
Am Samstagvormittag, an dem ich normalerweise im Pyjama Kaffee getrunken und meinen italienischen Harry Potter gelesen hätte, saß ich wieder in dem sterilen Polizeirevier und wartete auf meine nächste Befragung.
Ich trug dieselben Sachen, die ich zu meiner Verabredung mit Raffaele tags zuvor angezogen hatte – andere besaß ich jetzt nicht mehr. In den letzten vierundzwanzig Stunden hatte ich kaum geschlafen. Und es war mir auch nicht gelungen, die überwältigende Wut zu zügeln, die in der vergangenen Nacht aus mir hervorgebrochen war. Das würde ich nur schaffen, indem ich der Polizei half, Merediths Mörder zu finden. Ich wollte, dass ihr Tod gesühnt wurde, und war davon überzeugt, dass ich als ihre Freundin und Mitbewohnerin – und weil ich ebenfalls hätte ermordet werden können, wenn ich in dieser Nacht daheim gewesen wäre – für die Polizei eine wichtige Rolle spielte.
Die Polizisten schickten Raffaele sofort wieder nach Hause und setzten mich vor einen alten Computermonitor. Ich sollte die Personen auf Halloween-Fotos von Meredith und ihren Freundinnen identifizieren. Zunächst einmal kannte ich nicht viele aus ihrem Freundeskreis, aber nahezu unerfüllbar wurde die Aufgabe dadurch, dass fast jeder auf diesen Facebook-Fotos, auch Meredith selbst, eine gespenstische Verkleidung trug – Zombie-Schminke, Scream -Masken, falsche Zähne, Vampirblut. Die Ironie war schmerzhaft.
Als wir fertig waren, unterzog mich ein Kriminalbeamter einer zweiten Befragung, diesmal auf Italienisch. Ob wir in der Via della Pergola schon einmal Marihuana geraucht hätten? »Nein, wir kiffen nicht«, log ich und wand mich dabei innerlich.
Aus meiner Sicht hatte Laura mir keine andere Wahl gelassen; ich fühlte mich durch ihre Forderung in die Enge getrieben. Ich konnte kaum atmen, bis er zu meiner großen Erleichterung zu einem anderen Thema überging. Ich dachte, damit wäre die Sache erledigt.
Trotz der Sprachbarriere fiel mir auf, dass sich der Ton des Polizisten gegenüber der Nacht zuvor geändert hatte. Er war aggressiv, und seine Fragen wiederholten sich. Ich sollte eine Liste sämtlicher Besucher in unserem Haus und aller männlichen Bekannten von Meredith aufstellen. »Wir brauchen jeden Namen«, sagte er.
Weitere Kostenlose Bücher