Zeit, gehört zu werden (German Edition)
Abwesenheit später als weiteres Zeichen für meine Schuld deuten würde.
Gegen neun Uhr gingen Raffaele und ich zu einem Nachbarn, um dort ein spätes Abendessen einzunehmen. Ich fühlte mich elend, konnte nicht still sitzen und zupfte geistesabwesend auf der Ukulele seines Freundes herum, die auf einem Bord im Wohnzimmer lag. Gegen zehn Uhr – wir aßen noch – klingelte Raffaeles Handy. Raffaele meldete sich: »Ciao.«
Es war die Polizei. Er sollte sofort zur questura kommen. Raffaele und ich hatten denselben Gedanken: So spät? Nicht schon wieder.
»Wir sitzen gerade beim Abendbrot«, sagte Raffaele. »Darf ich erst noch aufessen?«
Auch das war eine schlechte Idee.
Während wir den Tisch abräumten, besprachen Raffaele und ich rasch, was ich tun sollte, während er auf dem Polizeirevier war. Ich fürchtete mich vor dem Alleinsein, sogar in seiner Wohnung, und fühlte mich nicht wohl bei dem Gedanken, bei jemandem zu bleiben, den ich nicht kannte. Ich konnte schnell ein paar Sachen zusammenpacken, um bei Laura oder Filomena zu übernachten, aber das erschien mir so kompliziert – und unnötig. Wenn meine Mutter morgen kam, war das alles gar kein Thema mehr.
»Es dauert bestimmt nicht lange«, meinte Raffaele.
»Ich komme einfach mit«, erklärte ich.
Wussten die Polizisten, dass ich auftauchen würde? Als wir dort eintrafen, sagten sie, ich könne nicht hereinkommen, ich müsse im Wagen auf Raffaele warten. Ich bat sie um Nachsicht. »Ich habe Angst, im Dunkeln allein zu sein«, sagte ich.
Sie gaben mir einen Stuhl außerhalb des Warteraums, beim Aufzug. Kaum hatte ich ein paar Minuten lang Übungen in meinem Grammatik-Arbeitsheft gemacht, kam ein silberhaariger Polizist – seinen Namen sollte ich nie erfahren – und setzte sich neben mich. »Da Sie nun schon mal hier sind«, sagte er, »würde ich Ihnen gern ein paar Fragen stellen, wenn ich darf.«
Ich hatte noch immer keine Ahnung, dachte noch immer, ich würde der Polizei helfen, konnte oder wollte noch immer nicht erkennen, dass ich eine Verdächtige war. Doch im Lauf der nächsten Stunden begriff ich allmählich, dass die Polizisten etwas aus mir herauszuholen versuchten und nicht aufhören würden, bis sie es hatten.
»Okay«, sagte ich zu dem namenlosen Polizisten, »aber ich habe Ihnen schon alles erzählt, was ich weiß. Was soll ich noch sagen?«
»Sie könnten noch ein bisschen über die Leute sprechen, die in Ihrem Haus verkehrten – vor allem über die Männer«, schlug er vor.
Ich hatte das in der questura schon so oft getan, dass ich es im Schlaf zu können glaubte. Und endlich schien einmal jemand nett zu sein.
»Okay«, begann ich. »Da wären zunächst mal die in der unteren Wohnung.«
Als ich die Liste der männlichen Besucher in der Via della Pergola 7 durchging, erinnerte ich mich plötzlich zum ersten Mal an Rudy Guede. Ich war ihm nur kurz begegnet.
»Oh, und da ist so ein Typ – ich kenne weder seinen Namen noch seine Telefonnummer –, der mit unseren Nachbarn von unten Basketball spielt«, sagte ich. »Sie haben Meredith und mich auf der Piazza IV Novembre mit ihm bekannt gemacht, und wir haben gemeinsam in ihrer Wohnung abgehangen.«
Während wir uns unterhielten, stand ich auf, um mich zu strecken. Ich hatte lange vornübergebeugt dagesessen. Ich berührte meine Zehen, spannte die Schenkelmuskeln an und reckte die Arme über den Kopf. »Sie scheinen wirklich sehr biegsam zu sein«, meinte er.
»Ich hab viel Yoga gemacht.«
»Können Sie mir das zeigen? Was für Übungen können Sie noch?«
Ich ging ein paar Schritte zum Aufzug hinüber und machte einen Spagat. Es war ein gutes Gefühl, dass ich es nach wie vor schaffte.
Noch während ich mit gespreizten Beinen auf dem Boden saß, öffnete sich die Tür des Fahrstuhls. Rita Ficarra, die Polizistin, die Raffaele und mich am Vortag wegen unserer Küsse getadelt hatte, kam heraus.
»Was machen Sie da?«, wollte sie wissen. Ihre Stimme troff vor Verachtung.
Ich stand auf und kehrte zu meinem Stuhl zurück. »Ich warte.«
»Ich habe Amanda gerade ein paar Fragen gestellt«, erklärte der silberhaarige Polizist.
Ficarra sagte: »Wenn das so ist, müssen wir es protokollieren.«
Sie führte mich durch den Warteraum in das Büro mit den beiden Schreibtischen, in dem ich schon so viel Zeit verbracht hatte. Unterwegs sah sie mich mit zusammengekniffenen Augen an.
»Sie haben gesagt, niemand von Ihnen rauche Marihuana. Sind Sie sicher, dass das die Wahrheit
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