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Zeit, gehört zu werden (German Edition)

Zeit, gehört zu werden (German Edition)

Titel: Zeit, gehört zu werden (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Amanda Knox
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Amerikanerin«, »Amanda Knox, eine andere Austauschstudentin«, »Amanda Knox, Merediths amerikanische Mitbewohnerin«. Alles lief auf schreckliche Weise falsch.
    Doch zu jener Zeit schenkte ich den Nachrichten keinerlei Aufmerksamkeit.
    Ich wollte unbedingt zu meinem normalen Tagesablauf zurückkehren, was sich jedoch als nahezu unmöglich herausstellte, weil ich jede Minute mit einem neuen Anruf der Polizei rechnete. Ich hatte keine eigene Bleibe, keine saubere Kleidung. Doch um mich in einer unkontrollierbaren Situation wie eine Erwachsene zu benehmen, lieh ich mir Raffaeles Trainingshose aus und ging nervös zu meinem Grammatikkurs, der um neun Uhr morgens stattfand.
    Zum ersten Mal, seit man Merediths Leiche gefunden hatte, war ich allein unterwegs.
    Der Kurs verlief nicht so normal, wie es mir lieb gewesen wäre. Unmittelbar bevor wir mit dem Unterricht begannen, hob eine Kommilitonin die Hand und fragte: »Können wir über den Mord sprechen, der am Wochenende passiert ist?«
    Ich wusste, dass ich nicht direkt angesprochen worden war, aber es fühlte sich so an. »Können wir’s bleibenlassen?«, entgegnete ich. »Die Ermordete war meine Mitbewohnerin, und die Polizei hat mich gebeten, nichts zu sagen.« Meine Kommilitonen murmelten vage Beileidsbekundungen, aber die Aufmerksamkeit machte mich nur noch nervöser.
    Mein Handy klingelte. Ich holte tief Luft und atmete erst wieder aus, als ich feststellte, dass es Dolly war. »Hast du die amerikanische Botschaft erreicht?«, fragte sie.
    »Nein.« Ich ging auf den Flur hinaus. »Ich hatte noch keine Zeit, aber ich werde versuchen, die Nummer rauszukriegen. Ich bin wieder an der Uni.«
    In Wahrheit hatte ich überhaupt nicht daran gedacht, die Botschaft anzurufen.
    Ich wollte Dolly – wie alle anderen Anrufer – glauben machen, ich hätte mein Leben im Griff. Ich versuchte noch immer, an mich zu glauben.
    Rückblickend ist mir klar: Dolly ahnte, dass ich auf eine Katastrophe zusteuerte – dass die Polizei, die mich vom Schlafen abhielt und mich immer wieder in die questura holte, nicht nur an mir interessiert war, weil sie mich für jemanden hielt, »der die Fakten kennt«. Ich sah diese Dinge nicht so, wie ich sie hätte sehen sollen – als Vorzeichen –, und ich begriff nicht, dass Dollys Rat nun meine letzte Chance war, den Lauf der bevorstehenden Ereignisse zu ändern. Ich betrachtete ihre Vorschläge lediglich als moralische Unterstützung, so wie die anderen Anrufe, die ich von meiner Familie und meinen Freunden erhielt.
    »Du bist ein starkes Mädchen«, sagte sie. »Ich hab dich lieb. Deine Mom wird morgen bei dir sein, also lass dich nicht unterkriegen.«
    Nach dem Kurs kehrte ich zu Raffaeles Wohnung zurück. Als ich die Piazza Grimana überquerte, sah ich Patrick in einer Gruppe von Studierenden und Journalisten vor dem Verwaltungsgebäude der Ausländeruniversität stehen. Er begrüßte mich mit Küsschen auf beide Wangen. »Willst du mit ein paar Reportern von der BBC sprechen?«, fragte er. »Sie möchten englischsprachige Studierende interviewen.«
    »Ich darf nicht«, sagte ich. »Die Polizei hat mir verboten, mit irgendwem über den Fall zu sprechen.«
    »Oh, tut mir leid, ich wollte dich nicht in Schwierigkeiten bringen.«
    »Schon gut. Aber Patrick« – ich zögerte –, »ich hätte dich schon anrufen sollen. Ich glaube, ich kann nicht mehr im Le Chic arbeiten. Ich habe momentan zu viel Angst, um nachts allein herumzulaufen. Dauernd schaue ich mich um, ob mir jemand folgt. Und mir ist, als würde hinter jedem Gebäude jemand lauern – und mich beobachten.«
    »Kein Problem. Verstehe ich sehr gut. Mach dir keine Sorgen deswegen.«
    »Danke.«
    Wir küssten uns erneut auf die Wangen. »Ciao«, sagte ich.
    Am Nachmittag bekam ich eine SMS von einer Freundin von Meredith – einer Studentin aus Polen – mit der Info über eine Trauerfeier für Meredith an diesem Abend. Wir sollten uns alle um acht Uhr mit brennenden Kerzen auf dem Corso Vannucci in der Innenstadt treffen und zum duomo ziehen. Ich überlegte hin und her, was ich tun sollte. Ich wollte dabei sein, war aber unschlüssig, ob es eine gute Idee war, wenn ich an solch einer öffentlichen Veranstaltung teilnahm. Die Leute, die ich dort traf, würden mich bestimmt fragen, was ich über den Mord wusste. Am Ende wurde mir die Entscheidung abgenommen – Raffaele musste woanders hin, und allein wollte ich nicht zu der Trauerfeier. Ich kam gar nicht auf die Idee, dass man meine

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