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Zeit, gehört zu werden (German Edition)

Zeit, gehört zu werden (German Edition)

Titel: Zeit, gehört zu werden (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Amanda Knox
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bürokratischen Gründe für seinen Arrest waren. Auch wenn ich nicht wissen konnte, was in Raffaeles Kopf vorging, dachte ich mir, dass er bestimmt genauso viel Angst hatte wie ich. Ich konnte mir nicht erklären, wieso er mich verraten hatte, obwohl mir durch den Kopf schoss, dass er bei seiner Vernehmung vielleicht genauso verwirrt gewesen war und genauso wie ich das Vertrauen in die eigenen Erinnerungen verloren hatte. Heute frage ich mich, ob er, anders als ich, eine Ahnung davon hatte, wie ernst unsere Lage war. Aber er bemerkte mich nicht, bevor ich weggeführt wurde.
    Die nächste Maßnahme war das erkennungsdienstliche Foto. Ich musste mich auf einen Stuhl setzen, der an die Wand geschraubt war, und geradeaus in ein großes schwarzes Metallgehäuse schauen, das genauso aussah wie der Fotoapparat in der Kraftfahrzeugbehörde des Staates Washington. In dem Moment, bevor es blitzte, wurde mir klar, dass ich nicht in die Kamera lächeln durfte. Später fiel mir auf, wie verloren ich aussah, wie entkräftet. Meine Haare waren gesträubt. Meine Haut gespenstisch blass. Meine Augen leer vor Erschöpfung.
    Argirò starrte auf den Knutschfleck an meinem Hals, gab aber keinen Kommentar dazu ab. »Folgen Sie mir, signorina «, sagte er schließlich.
    Agente Lupa nahm mich wieder am Oberarm und führte mich voran. Argirò schob einen großen goldenen Schlüssel ins Schlüsselloch einer Panzerglastür, die auf beiden Seiten durch Metallgitter verstärkt war. Alle diese Türen sahen genau gleich aus – und alle waren ohne Schlüssel unpassierbar. Er ging voraus, hielt die jeweilige Tür offen, bis wir hindurchgegangen waren, und schloss sie dann hinter uns wieder ab.
    Wir gingen durch schmuddlige, cremefarben gestrichene Flure und immer neue Gittertüren, die Argirò aufschloss. Trotz meiner Benommenheit bekam ich mit, dass keine der Türen einen Knauf hatte. Der vice commandante benutzte seine Schlüssel als Klinke.
    Und dann war ich im Frauentrakt. Unerklärlicherweise verspürte ich, während ich immer tiefer in den Käfig gelangte, nicht einmal das Bedürfnis zu entkommen.
    Argirò führte uns eine schmale Treppe hinauf zu il primo piano – dem ersten Stock – und klopfte mit dem Schlüssel, den er in der Hand hielt, an die Gittertür. Eine Wärterin auf der anderen Seite nahm ihren eigenen goldenen Schlüssel, um aufzuschließen und uns in die Krankenstation zu geleiten. Dank des Untersuchungstischs in der Mitte war dieser Raum der erste im Gefängnis, den ich halbwegs zuordnen konnte. Der Arzt, ein älterer Mann mit dunkel gefärbten Haaren und in weißem Kittel saß hinter seinem Schreibtisch. Er schaute hinab auf die Mappe vor ihm und dann hoch zu mir. »Name?«, fragte er.
    »Amanda Knox. K-N-O-X.«
    »Haben Sie irgendwelche Allergien, chronische Erkrankungen, ansteckende Krankheiten?«
    »Nein«, antwortete ich.
    »Schön, aber wir müssen auf jeden Fall ein Blutbild machen lassen«, sagte er. Im selben Moment spürte ich ein scharfes Ziepen am Hinterkopf. Die Krankenschwester hatte sich um mich herumgeschlichen und mir ein Haar ausgerissen. Ich wollte mich schon umdrehen und sie mit einem bösen Blick bedenken, doch stattdessen fragte ich den Arzt: »Ein Blutbild? Wofür?«
    »Auf ansteckende Krankheiten«, sagte er. »Unterschreiben Sie hier. Für die Untersuchungen.« Er schob mir ein Formular und einen Kugelschreiber zu, und ich unterschrieb. »Wie geht es Ihnen?«
    »Ich fühle mich beunruhigt«, sagte ich. »Beunruhigt und verwirrt.«
    Am liebsten hätte ich mich in meinem Stuhl verkrochen.
    »Verwirrt?«, fragte er nach.
    »Was auf der Polizeiwache passiert ist, war furchtbar für mich. Niemand wollte mir zuhören«, sagte ich. Wieder schossen mir Tränen in die Augen.
    »Nun mal langsam«, kommentierte Argirò.
    »Niemand hat Ihnen zugehört?«, fragte der Arzt.
    »Ich bin zweimal auf den Kopf geschlagen worden«, sagte ich.
    Der Arzt gab der Schwester einen Wink, die mir durch die Haare fuhr, um einen Blick auf meine Kopfhaut zu werfen.
    »Nicht mit voller Wucht«, sagte ich. »Aber es hat mich geschockt. Und erschreckt.«
    »So was Ähnliches hab ich auch schon von anderen Häftlingen gehört«, sagte die Wärterin, die im Hintergrund stand.
    Diese doppelte Anteilnahme brachte mich auf die verrückte Idee, das Gefängnispersonal wäre ganz anders als die Polizei.
    »Brauchen Sie etwas zum Schlafen?«, fragte der Arzt.
    Ich wusste nicht, was er damit meinte, weil mir die Vorstellung, eine

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