Zeit, gehört zu werden (German Edition)
Schlaftablette zu nehmen, so fremd war, wie Handschellen umgelegt zu bekommen. »Nein«, sagte ich. »Ich bin echt schon müde.«
Der Arzt nickte Argirò und den Wärterinnen zu, und Lupa griff sacht nach meinem Oberarm, um mir beim Aufstehen zu helfen.
»Danke«, sagte ich zu dem Arzt.
Ich verspürte Wut bei der Berührung, dem Gefühl, dass man mich einfach festhalten durfte. Glaubten die denn, ich könnte spontan irgendetwas Böses anstellen? Aber dann zwang ich mich, in Lupas Griff lockerzulassen – meine Wut, meine Angst sollten nicht missdeutet werden. Von Anfang an machte ich klar, dass es unnötig war, mich am Arm festzuhalten. Die ganze Zeit über, die ich in Capanne verbrachte, sprach ich immer ruhig und bewegte mich langsam – mit voller Absicht. Wenn eine Wärterin mich am Arm packte, stellte ich mir vor, ich würde so lange schrumpfen, bis ihre Finger sich um ihn schließen konnten, ohne mit meiner Haut in Berührung zu kommen. Dass man überhaupt auf die Idee verfallen konnte, ich müsste körperlich gebändigt werden, machte mich fuchsteufelswild. Ich gehörte nicht an einen Ort, wo es nötig war, Menschen in ihren Bewegungen zu beschränken, indem man sie am Bizeps festhielt oder ihnen Handschellen anlegte, weil sie womöglich ohne Vorwarnung aggressiv werden würden. Nein, ich gehörte nicht ins Gefängnis.
Argirò führte unsere Prozession hinauf zum secondo piano – dem zweiten Stock. »Sie dürfen mit niemandem sprechen außer dem Wachpersonal«, sagte er. »Mit niemandem außer dem Wachpersonal.« Vermutlich sagte er das zweimal, um sicherzugehen, dass ich es verstanden hatte. Aber mit wem sonst hätte ich sprechen sollen? Es war ja sonst niemand da. Eine hochgewachsene, schlanke rothaarige Wärterin öffnete die nächste Tür. Der Flur war mit geschlossenen Metalltüren gesäumt. Im Vorbeigehen hörte ich die Geräusche von laufenden Fernsehern und Frauenstimmen, sah aber niemanden, bis wir am anderen Ende ankamen. Dort spähte ein Augenpaar aus dem Beobachtungsfenster der letzten Tür rechts.
Die Wärterin trat vor und schloss die letzte Tür links auf. Argirò ging als Erster hinein. Er deutete auf den Fernseher, der auf einer grauen Metallkiste gegenüber von zwei Betten stand. Der Apparat war in braunes Packpapier eingewickelt und mit Klebeband versehen, als sollte er demnächst auf die Post gehen. »Rühren Sie das nicht an«, sagte er. »Versuchen Sie’s nicht mal.«
Er musste an Leute gewöhnt sein, die viel weniger gefügig waren als ich. Es wäre mir nie in den Sinn gekommen, seine Anweisungen zu missachten.
Ich fühlte mich seltsam klein, wie Alice im Wunderland, als alles um sie herum plötzlich riesengroß war. Das Bett sah so wenig einladend aus, wie man das im Gefängnis wohl zu erwarten hatte: eine gelbe Schaumstoffmatratze auf einem orangefarbenen Gestell, voller schwarzer Stellen da, wo der Lack abgeblättert war. Zwei hässliche Metallschränke in geflammtem Orange waren an die Wand gedübelt – für Klamotten, vermutete ich.
»Nehmen Sie alles aus der Mülltüte«, sagte die Wärterin. »Wenn Sie noch irgendwas brauchen, rufen Sie › agente‹ .«
»Darf ich einen Anruf machen?« Im Film haben Häftlinge immer das Recht auf einen Anruf.
Bis zu diesem Moment war es mir nicht einmal in den Sinn gekommen, darum zu bitten. Aber ich sehnte mich mehr nach der Stimme meiner Mutter als nach allem anderen im Leben.
Die Wärterin sah mich an, als hätte ich Kaviar und Prosecco verlangt.
Ich breitete die dünne Decke auf der nackten Matratze aus und legte mich auf den rauhen Wollstoff. Gerade als ich mich zusammenrollte, fiel die Tür mit einem metallischen Klacken zu. »Bleiben Sie da«, sagte die Wärterin – als hätte ich eine Alternative – und ging.
Und somit gab es für mich nichts mehr zu tun. Fünf Tage lang hatte ich der Polizei nach der Pfeife getanzt, beinahe vierundzwanzig Stunden unter ihrer totalen Kontrolle gestanden. Allein gelassen zu werden war alles gewesen, was ich während meiner Vernehmung gewollt hatte. Jetzt, wo es so weit war, fühlte ich mich hilflos, wütend und verängstigt.
Mich überkam maßlose Sehnsucht nach meiner Mutter. Sie musste mittlerweile in Perugia sein, aber ich fühlte mich so weit von ihr entfernt wie überhaupt möglich. Ich war mir sicher, dass sie wegen mir ausflippte, und konnte doch nichts dagegen tun. Ich fragte mich, wie sie überhaupt herausfinden sollte, wo ich war, was mit mir passiert war. Ein furchtbarer
Weitere Kostenlose Bücher