Zeit, gehört zu werden (German Edition)
hockte sich vor mich, nahm meine kalten kleinen Hände in ihre großen und rubbelte sie. »Sie müssen stark bleiben«, sagte sie. »Bald wird sich alles klären.«
Dann umarmte sie mich, wie eine Mutter ihr verstörtes fünfjähriges Kind umarmen würde.
Ich drückte mein Gesicht an ihre Schulter und heulte drauflos, als wären alle Dämme gebrochen, schrie meinen Kummer hinaus. So sehr fehlte mir meine Mutter, dass ich mich von einer Fremden trösten ließ.
Die Sehnsucht nach meiner Mutter wurde immer schlimmer. Ein ganzer Tag war vergangen, seit sie hätte ankommen sollen, doch da ich sie nicht mehr erreichen konnte, wusste ich auch nicht, wo sie sein mochte.
Ich wusste nur, dass sie alles daransetzen würde, mich zu sehen. Und das irgendwann auch schaffen würde. Wenn es doch nur früher passiert wäre.
Sechs Tage zuvor hatte ich geglaubt, ich könnte – und sollte – mit Merediths Tod allein zurechtkommen. Aber dann war alles so schnell zusammengekracht. Wenn ich meine Mutter nur früher um Hilfe gebeten hätte, wäre ich mir bei meiner Vernehmung bestimmt nicht so hilflos vorgekommen – in die Enge getrieben und alleingelassen. Ich hätte mich wehren können. Wenn meine Mutter – mein Rettungsanker – da gewesen wäre, um mir von der anderen Seite der Tür aus zur Verteidigung beizuspringen, wäre ich jetzt mit ihr in einem Hotel, nicht ganz allein im Gefängnis.
Lupa hielt mich im Arm, bis mein Weinen verebbte. »Brauchen Sie irgendwas?«, fragte sie.
»Nein«, wimmerte ich. »Danke.«
Als man in der questura von mir verlangt hatte, den genauen Ablauf jenes Abends zu schildern, war meine Erinnerung nicht ganz verlässlich gewesen. Raffaele und ich hatten Die fabelhafte Welt der Amélie gesehen, zu Abend gegessen, Gras geraucht, Sex gehabt und waren eingeschlafen. Aber in welcher Reihenfolge? Und was war sonst noch passiert? Worüber hatten wir geredet?
Doch dann, gleich nachdem die Nonne gegangen war, kam mir plötzlich ein Detail nach dem anderen wieder.
Ich hatte ein Kapitel in Harry Potter gelesen.
Wir hatten uns einen Film angesehen.
Wir hatten Abendessen gekocht.
Wir hatten einen Joint geraucht.
Raffaele und ich hatten Sex miteinander gehabt.
Und dann war ich eingeschlafen.
Was ich bei meiner Vernehmung gesagt hatte, war falsch. Ich hatte versucht, das zu glauben, was mir von der Polizei nahegelegt worden war, und es demgemäß herbeifabuliert. Aber es entsprach nicht der Wirklichkeit. So hatte es sich nicht abgespielt. Ich hatte überhaupt nichts Schlimmes miterlebt. Sobald mir das klar war, dachte ich nur Gott sei Dank!, während mich eine riesige Welle der Erleichterung überflutete.
Schnell schrieb ich oben auf die Seite: »An die Person, die dies erfahren muss.«
Anders als mein erstes memoriale drückte dieses weniger Zweifel und mehr Gewissheit darüber aus, wo ich in der Nacht von Merediths Tod gewesen war. Es drängte mich, alles niederzuschreiben, endlich meine Erinnerungen in den richtigen Kontext bringen und mich der Polizei gegenüber erklären zu können. Ich schrieb:
O Gott! Ich bin gerade ein bisschen am Ausrasten, weil ich mit einer Nonne gesprochen habe und mich endlich erinnern kann. Das ist sicher kein Zufall. Ich erinnere mich, was ich zum Zeitpunkt der Ermordung meiner Freundin mit Raffaele gemacht habe! Wir sind beide unschuldig! Und zwar deshalb: Nach dem Abendessen begann Raffaele in der Küche, das Geschirr zu spülen, und ich gab ihm währenddessen eine Rückenmassage. Das tun wir füreinander, wenn einer von uns abwäscht, weil es das Geschirrspülen erleichtert. Ich erinnere mich jetzt, dass wir NACH dem Abendessen Marihuana rauchten, und beim Rauchen sagte ich ihm, er solle sich wegen der Spüle bloß keine Sorgen machen. Er regte sich auf, weil die Spüle kaputt war, dabei war sie neu, und ich sagte ihm, er solle sich deswegen nicht aufregen, weil es nur ein blödes kleines Problem war und blöde kleine Probleme kein Grund sind, sich Sorgen zu machen. Dann fingen wir an, mehr darüber zu reden, was für Leute wir sind. Wir redeten darüber, dass ich unbeschwerter bin als er und alles weniger gut im Griff habe und dass er sehr ordentlich ist, weil er eine Zeitlang in Deutschland gelebt hat. Während dieser Unterhaltung erzählte mir Raffaele auch von seiner Vergangenheit, dass er einmal eine üble Erfahrung mit Alkohol und Drogen gemacht hat. Er erzählte mir, dass er mit Freunden zu einem Konzert fuhr und dass sie sich mit Kokain und Marihuana
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