Zeit, gehört zu werden (German Edition)
zudröhnten, dass er Rum trank und dass er nach dem Konzert, als er seine total weggetretenen Freunde mit dem Auto nach Hause fuhr, begriffen hatte, wie schwachsinnig das war, und beschlossen hatte, sich zu ändern. Er erzählte mir, dass er sich früher die Haare gelb gefärbt hatte und ein andermal, noch früher, Muster in die Haare geschnitten hatte. Dazu trug er auch Ohrringe. Und zwar deshalb, weil er früher Videospiele gespielt und Sailor Moon geguckt hatte, eine japanische Zeichentrickserie für Mädchen, und deswegen nicht sehr beliebt in der Schule gewesen war. Andere Schüler hatten sich über ihn lustig gemacht. Ich erzählte ihm, dass ich auf der Highschool auch nicht beliebt gewesen war, weil ich als Lesbe galt. Wir sprachen darüber, dass seine Freunde weder von Drogen noch von Videospielen losgekommen waren und dass ihm das leid für sie tat. Wir redeten auch über seine tote Mutter und seine Schuldgefühle, weil er sie allein gelassen hatte, bevor sie starb. Er erzählte mir, dass sie ihm vor ihrem Tod gesagt hatte, dass sie sterben wollte, weil sie allein war und nichts hatte, wofür es sich zu leben lohnte. Ich sagte Raffaele, es wäre nicht seine Schuld, dass seine Mutter Depressionen hatte und sterben wollte. Ich sagte ihm, er hätte mit seiner Entscheidung zu studieren das Richtige getan. Ich sagte ihm, dass das Leben voller Alternativen ist und diese Alternativen nicht unbedingt die zwischen gut und schlecht sind. Es gibt auch welche zwischen dem, was das Beste ist und was nicht, und wir brauchen nur das zu tun, was wir für das Beste halten. Ich sagte ihm, dass Fehler uns lehren, bessere Menschen zu werden, und dass er nicht an seiner Entscheidung zweifeln sollte, zum Studium nach Mailand zu gehen, nur weil er das Gefühl hatte, eigentlich in der Nähe seiner Freunde bleiben zu müssen, die ihr Leben nicht geändert hatten und ihn seiner Meinung nach brauchten. Ich sagte ihm, er müsste sich selbst treu sein. Das war ein sehr langes Gespräch, aber es hatte sich genau so abgespielt und muss zu der Zeit von Merediths Ermordung stattgefunden haben, weshalb ich hier klarstelle, was passiert ist.
Gegen fünf Uhr nachmittags gingen Raffaele und ich in seine Wohnung zurück, um ein bisschen zu relaxen. Ich checkte kurz meine E-Mails auf seinem Computer und las ihm danach ein bisschen aus Harry Potter auf Deutsch vor.
Wir schauten uns Die fabelhafte Welt der Amélie an, und dann küssten wir uns eine Weile. Ich erzählte ihm, dass ich diesen Film richtig gern mochte und dass meine Freunde fänden, ich hätte Ähnlichkeit mit Amélie, weil ich ein bisschen schräg drauf bin, zumindest in der Hinsicht, dass ich zufällige Kleinigkeiten mag, wie Vogelgesang, und dass mich solche Kleinigkeiten froh machen. Ich weiß nicht mehr, ob wir Sex hatten.
Dann bereitete Raffaele das Abendessen vor, ich sah ihm dabei zu, und wir blieben in der Küche, während das Essen kochte. Nach dem Essen wusch Raffaele das Geschirr, und da müssen sich zwei Rohre darunter gelöst haben, sodass der Küchenboden mit Wasser überflutet wurde. Er regte sich auf, aber ich sagte ihm, das könnten wir morgen sauber machen, da würde ich einen Mopp aus meiner Wohnung mitbringen. Er legte ein paar kleine Lappen an die Stelle, damit ein Teil des Wassers aufgesaugt würde, und warf sie dann in die Spüle. Ich fragte ihn, was ihm jetzt guttun würde, und er sagte, er würde gern einen Joint rauchen.
Kurz darauf bekam ich eine SMS von meinem Chef, dass ich nicht zur Arbeit zu kommen brauchte, und schickte ihm eine SMS zurück, in der ich schrieb: »Ci vediamo. Buona serata.«
Während Raffaele den Joint drehte, lag ich still im Bett und sah ihm zu. Er fragte mich, woran ich dächte, und ich sagte, ich dächte, wir wären doch sehr verschiedene Menschen. So begann das Gespräch, über das ich bereits geschrieben habe.
Ich weiß, dass wir danach lange Zeit im Bett blieben. Wir hatten Sex, und dann spielten wir unser Spiel, einander anzusehen und Fratzen zu schneiden. Schließlich, also eine Weile später, schliefen wir ein, und ich wachte erst am Freitagmorgen auf.
Genau so hat sich alles abgespielt, und ich könnte es beschwören. Es tut mir leid, dass ich mich nicht früher daran erinnert habe, und es tut mir leid, dass ich gesagt habe, es wäre möglich, dass ich im Haus gewesen war, als der Mord passierte. Ich habe diese Dinge gesagt, weil ich verwirrt und verängstigt war. Ich habe nicht gelogen, als ich gesagt habe, ich dächte, der
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